17:10 BAUPRAXIS

Was tun wenn Hochwasserschutz-Bauten ihr Lebensende erreichen?

Geschrieben von: Claudia Bertoldi (cb)
Teaserbild-Quelle: PantaRhei_CC BY-SA 4.0

Hochwasserschutzbauten bewahren Menschen und Sachwerte seit Jahrhunderten vor Schäden. Erreichen die Schutzkonzepte und Bauten ihr Lebensende, müssen sie instand gesetzt oder erneuert werden. Diesem Thema widmete sich eine Tagung der Kommission für Hochwasserschutz des Schweizer Wasserwirtschaftsverbandes. 

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Quelle: Karl-Heinz Liebisch_Pixelio.de

Wehre sind ein besonderer Blickpunkt im Flusslauf. Doch sie wurden nicht grundlos angelegt und haben eine wichtige Funktion beim Hochwasserschutz.

Die Ereignisse im In- und Ausland haben auch dieses Jahr wieder offenbart, wie extreme Wetterlagen in kürzester Zeit zu Hochwasser und starken Überschwemmungen führen können. Im Gebirge sind die Menschen meistens mit Schutzbauten gewappnet, denn zur Schneeschmelze oder in Regenperioden verzeichnen die Bäche und Flüsse oft einen erhöhten Pegelstand. Auch Murgänge und Rutschungen verlegen die Gewässer.

Trotz unzähliger Sicherheitsmassnahmen führten die Unwetter Ende Juli in der Schweiz zu Hochwasser an den Flüssen und zu Überschwemmungen an zahlreichen Seen. Mancherorts musste gar die Gefahrenstufe 4 oder 5 ausgerufen werden wie am Thuner-, Neuenburger- und Bielersee sowie am Vierwaldstättersee.

Doch im Flachland und den Mittelgebirgen sind diese Naturkatastrophen nicht üblich. Und so waren die Menschen auch nicht vorbereitet, als am 15. Juli in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen innerhalb von 24 Stunden 100 bis 150 Liter Regen pro Quadratmeter fielen. Aus kleinen Bächen wurden reissende Ströme, die alles mit sich mitrissen. Mehr als 180 Menschen starben, ganze Strassenzeilen wurden von den Wassermassen wie ausradiert. Die Flut verursachte Sachschäden in Milliardenhöhe.

Extreme Wetterereignisse werden häufiger

Auch weite Teile Belgiens, Frankreichs, der Niederlande, Luxemburgs und anderen Regionen Europas waren betroffen – und oft nicht ausreichend geschützt. Expertinnen und Experten rechnen wegen des Klimawandels mit einer Häufung extremer Wetterereignisse. Vielerorts wird nun der Hochwasserschutz verbessert, auch länderübergreifende Lösungen sind dringend nötig.

In der Schweiz wurden bereits vor rund 160 Jahren die ersten offiziellen Schutzbauten errichtet. Im Jahr 1875 wurde der Bau von Schutzbauten in das Eidgenössische Forstgesetz aufgenommen. Viele der Schutzbauten sind inzwischen alt, aber trotzdem noch voll funktionstüchtig. 

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Quelle: epj_pixelio.de

Die einfache Verbauung durch Steinhindernisse ist ein effektives System, um die Erosion im Flussbett und Uferzonen und den damit verbundenen Abtransport von Material zu verhindern.

Enormer Wiederbeschaffungswert

«Der Umgang mit alternden Bauten ist eine Aufgabe, die nicht nur unsere Generation betrifft, sondern auch in Zukunft von immer grösserer Bedeutung sein wird», betonte Adrian Schertenleib, Leiter der Sektion Hochwasserschutz beim Bundesamt für Umwelt (Bafu) an der Tagung «Schutzkonzepte und ihre Bauten am Lebensende - was nun?». Sie wurde aufgrund des hochbrisanten Themas von der Kommission für Hochwasserschutz (KOHS) nicht abgesagt, sondern als digitale Weiterbildung mit virtueller Event-Networking-Plattform und filmischer Exkursion durchgeführt.

«Es gibt in der Schweiz unzählige Schutzbauten, die genaue Anzahl ist nicht bekannt. Laut einer Bafu-Studie aus dem Jahr 2009 beträgt der Wiederbeschaffungswert rund 42 Milliarden Franken. Im Jahr 2021 wurde die Anzahl nochmals geprüft, der Wert hat sich etwas verringert, aber beträgt immer noch rund 35 Milliarden Franken», sagt Schertenleib. Es handele sich dabei um riesige Summen, vor allem aber um eine grosse Verantwortung.

Die Schutzbauwerke unterliegen einem Abnutzungs- und Alterungsprozess und besitzen eine begrenzte Lebensdauer. Mittels kontinuierlicher Unterhaltsarbeiten werden die Anlagen und Bauwerke auf dem notwendigen baulichen Niveau gehalten, um ihre Aufgaben zuverlässig erfüllen und Menschen und Infrastrukturen schützen zu können. Die Verantwortung dafür obliegt den Kantonen. 

Gemeinden, Wasserbauträger oder Anlagenbetreiber sind verantwortlich für die Instandhaltung im Bereich von Siedlungen und Infrastrukturen. Das Schutzbautenmanagement erfasst den Bestand und Zustand der Werke, kennt deren Schutzfunktion und übernimmt die Planung und Ausführung anfallender Unterhaltsarbeiten und Einsatzbauten.

«Angesichts der grossen Anzahl müssen wir Prioritäten setzen. Es müssen Mittel bereitgestellt werden, mit denen das Schutzniveau und die Wirkung aufrechterhalten und auf einem akzeptablen Stand gehalten werden können», so Schertenleib. Der Alterungsprozess der Schutzbauten werde durch die Instandhaltung verlangsamt, dennoch sei die Lebensdauer begrenzt. 

Zudem spielen weitere Faktoren bei der Planung und Instandhaltung eine Rolle. «Heute bestehen höhere Anforderungen an Schutzbauten als früher, da grössere und konzentrierte Werte zu schützen sind. Zudem stehen den Technikern bessere technische Hilfsmittel zur Verfügung», sagt der Experte.

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Quelle: PantaRhei_CC BY-SA 4.0

Künstlich angelegte Wehre halten das Wasser zurück, ermöglichen die Regulierung des Wasserstands und können so vor Überschwemmungen schützen.

Zehn Fallbeispiele aus der Schweiz

Zur Hilfestellung wird momentan eine Praxishilfe für den «Umgang mit alternden Schutzsystemen» mit Beispielen und Vorgehensweise erstellt, die ein standardisiertes Arbeiten bei der Bewertung und für nachhaltige Vorsorgemassnahmen ermöglichen soll, berichtet Geografin Catherine Berger vom geowissenschaftlichen Büro Geo7 aus Bern.

Im Auftrag des Bafu untersuchte Geo7 den aktuellen Wissensstand zum Zusammenhang zwischen Klimawandel und gravitative Naturgefahren in der Schweiz. Die Ergebnisse liegen in Form des Berichts «Naturgefahren und Klimawandel Schweiz» sowie einem Faktenblatt vor.

Das Büro liefert die notwendigen Grundlagen für ein vorausschauendes Naturgefahrenmanagement, hilft unter anderem dabei, Gefahrenprozesse zu erkennen, zu beurteilen und somit Schäden zu begrenzen. Geo7 ist unter anderem auf die Entwicklung und Anwendung von Modellen und Simulationen von Naturgefahrenprozessen spezialisiert und begleitet die Umsetzung der Schutzmassnahmen.

«Wir möchten die Grundlage schaffen, um nachvollziehbare, begründete und akzeptierbare Entscheidungen treffen zu können», sagt die Naturgefahren-Expertin. In zehn Fallbeispielen aus dem Alpenraum der Schweiz werden Projekte mit unterschiedlichen Facetten angeführt. Sie wurden aus verschiedenen Kantonen an kleinen und grossen Wildbächen ausgewählt. «Die dabei gemachten Erfahrungen und Stolpersteine sollen helfen, dass sich gleiche Fehler nicht wiederholen und dadurch falsche Entscheidungen getroffen werden.»

 

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Quelle: Norbert Kirchhoff_CC BY-SA 3.0

Die Technik wurde bereits von den Vorfahren eingesetzt. Mechanische Wehre regulieren Wasserstand und -verlauf. An den Bächen wurden sie auch für die Wasserumleitung zu Mühlen genutzt.

Jedes Schutzsystem ist einzigartig

Alte Schutzsysteme müssten systematisch betrachtet werden. Sie sind historisch gewachsen, jeder Wildbach mit seinem Schutzsystem ist einzigartig. Dabei sind verschiedene Lösungen möglich, betont Catherine Berger. Doch die Funktionsfähigkeit der Schutzanlagen sinkt mit dem Alter. Bei der Instandsetzung sei zu entscheiden, ob dieses System auch weiterhin sinnvoll ist oder angepasst beziehungsweise ersetzt werden muss.

Die Entscheidungen basieren auf dem expliziten Wissen aus der Analyse von Fallbespielen und aus Studien, bei denen die Schutzsysteme und der komplette Verbund, aber auch der Naturraum, das Einzugsgebiet sowie besondere Vorkommnisse wie Murgänge und Überschwemmungen und der gesellschaftliche Aspekt einbezogen werden. Beachtung finden müssen zudem die Rahmenbedingungen, die zum Bau des Schutzsystems führten.

Die Schutzsysteme müssen über einen längeren Zeitraum untersucht und ihre funktionelle Bedeutung genau analysiert werden. Dazu werden auch Dokumente aus den Archiven herangezogen. Die älteste Unterlagen und Pläne zum Bau von Schutzanlagen stammen aus den Jahren 1880/1890. Wird entschieden, auf ein neues System umzustellen, sind massgeschneiderte Lösungen gefordert.

Sicherheit gewährleisten

Die Schutzbauteninfrastrukturen gegen die Naturgefahr Wasser sind in der Schweiz für Besiedlung und Bewirtschaftung des Raumes essenziell. Gemäss Art. 2 WBG [04] ist es die Aufgabe der Kantone, diesen Schutz zu gewährleisten. Der Bund ist mit der Aufsicht betraut und subventioniert die Kantone bei der Durchführung von Hochwasserschutzmassnahmen, insbesondere bei der Errichtung sowie Instandstellung von Schutzbauten.

Mit dem Inkrafttreten des revidierten Wasserbaugesetzes am 1. Januar 2020 entsteht eine neue Aufgabenverteilung. Der Wasserbau und der bauliche Gewässerunterhalt an allen öffentlichen Gewässern liegen in der alleinigen Aufgaben- und Finanzkompetenz der Kantone. 

Auch der betriebliche Gewässerunterhalt wie Räumungsarbeiten, Erhalt und Pflege der Ufervegetation oder der Unterhalt von Wegen für den Gewässerunterhalt ist an grösseren öffentlichen Gewässern in kantonalen Verantwortung. Die Gemeinden übernehmen den betrieblichen Unterhalt aller übrigen, kleineren Gewässer.

Die neue Wasserbaugesetzgebung legt die Verantwortung für den baulichen Gewässerunterhalt fest. Die Kantone müssen das geforderte Sicherheitsniveau gewährleistet. «Um die Zuverlässigkeit der Systeme zu beurteilen, müssen wir wissen, wo welche Werke stehen, wie ihr Zustand ist und welche Bedeutung sie für die Bevölkerung haben», sagt Marco Achermann, Projektleiter Risikomanagement der Abteilung Naturgefahren, Dienststelle Verkehr und Infrastruktur des Kantons Luzern. Darauf aufbauend könnten gesetzliche und finanzielle Grundlagen geschaffen werden. Er stellte das Schutzbautenkataster und –management im Kanton Luzern vor.

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Quelle: bigmama_pixelio.de

Wehranlage an einem Fliesgewässer

Datenbank fürs Management

Ein Grossteil der Siedlungen und Hauptverkehrswege im Kanton Luzern liegt im Einflussbereich von Naturgefahren. Das Risiko ist durch die Ausdehnung der Siedlungsgebiete in den letzten Jahrzehnten noch gestiegen. Bei den Erhebungen für das Schutzbautenkataster war zur Bestandaufnahme die Begehung der Wasserläufe nötig, gleichzeitig wurden vorhandene Unterlagen in Archiven gesichtet. Bei der Inspektion wurden Schutzklassen und Zustandsklassen festgelegt und entschieden, ob die Schutzbauten im Detail erhoben oder im Schutzbautenkataster archiviert werden.

Das Modul Portfolio bündelt Wissen und Erfahrung. «In ihm sind alle massgeblichen Informationen zur Zuverlässigkeit der Systeme und zur Erhaltungsstrategie festlegen», so Achermann. Es beinhaltet alle vorhandenen Fakten zu den Schutzbauten, die Bewertung der Risiken und des Zustands der Bauten sowie die zu erwarteten, tolerierbaren beziehungsweise nicht tolerierbaren Entwicklungen. Es dient als Entscheidungshilfe für notwendige kurz- und langfristige Erhaltungsmassnahmen.

Mit dem Modul Bewirtschaftung werden die Schutzbauten zwecks der optimalen Nutzungsdauer regelmässig überwacht und auf ihre Zuverlässigkeit überprüft. Bei Bedarf sind Massnahmen einzuleiten, gegebenenfalls können Bauten aus dem Schutzbautenmanagement gestrichen werden. Das Modul Verwaltung stellt einen reibungslosen Ablauf der massgeblichen Prozesse der Instandhaltung sicher, definiert die finanziellen Mittel und stellt diverse Werkzeuge sowie Hilfsmittel für das Schutzbautenmanagement zur Verfügung.

Der Schutzbautenkataster umfasst alle wesentlichen Werke und dient als zentrale Informationsquelle als Datenbank, Dokumentenverwaltung und GIS-Anwendung. Die Ergebnisse stehen zur Verfügung und lassen sich abfragen. Das erstellte Kataster ermöglicht einen guten Überblick über die 39 690 Luzerner Schutzbauwerke. Es umfasst 26 606 punktuelle und 13 084 lineare Bauwerke. 16 060 Bauten weisen Schäden auf, deren Instandsetzung mithilfe des Schutzbautenmanagements koordiniert vorangetrieben werden kann.

Weitere Referenten stellten Schutzsysteme in Chamoson VS, im Aargauischen Bünztal und an der Töss ZH vor. Aufgrund der Corona-Massnahmen musste die vorgesehene halbtägige Exkursion, die sich im Normalfall an die Tagung anschliesst, abgesagt werden. Sie wurde als Film gestaltet und bildete den Abschluss der digitalen Veranstaltung. In den Aufzeichnungen gaben Experten an vier Standorten der Gürbe BE Auskunft über die hier getroffenen Hochwasserschutzmassnahmen.

Der Film gibt Auskunft über die verschiedenen Verbauungskonzepte, welche seit 160 Jahren an der Gürbe umgesetzt werden. Eine grosse Rutschung hatte im Februar 2018 mehrere Betonsperren und Holzverbauungen stark beschädigt. Dies gab Anlass, die jahrzehntealte Schutzstrategie neu zu überdenken.

Geschrieben von

Ehemalige Redaktorin Baublatt

Claudia Bertoldi war von April 2015 bis April 2022 als Redaktorin beim Baublatt tätig. Ihre Spezialgebiete waren Architektur- und Technikthemen.

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