Wohnüberbauung: Mit Ertüchtigung den Bogen raus
Unweit vom Genfersee, an der Rue du Vieux Moulin in Versoix, soll ein bestehendes Mehrfamilienhaus mit günstigen Mietwohnungen erneuert und aufgestockt werden. Das siegreiche Wettbewerbsprojekt verspricht mehr Licht, Luft und Sonne. Die bestehende Struktur soll weitgehend erhalten bleiben, Abbruchmaterial vor Ort weiterverwendet werden.
Quelle: Giulia Brena, Pablo Brenas, Robin Delerce, Paule Perron, Erik Dhont
Bei der Zufahrt zur Bauzeile schlägt das Siegerprojekt ein Café vor. Zwischen dem Gebäude und der Versoix erstreckt sich ein Grünraum.
Das Städtchen Versoix kennen wohl die meisten bloss vom Durchfahren; wenige Minuten trennen hier die Reisenden von Genf. Es trägt den Namen eines kleinen Flusses. Von den Jurahängen her kommend, mündet er südlich der Altstadt in den Genfersee. Über mehrere Kilometer bildet er die Grenze zwischen der Schweiz und Frankreich. Im 18. Jahrhundert planten die Franzosen hier eine Konkurrenzstadt zu Genf, die hochfliegenden Pläne fanden aber nur in Ansätzen ihren Weg vom Reissbrett in die Realität. Nach dem Wiener Kongress geriet Versoix in den drei bis fünf Kilometer breiten Landkorridor, welcher Genf mit der Restschweiz verbindet. Er wurde dem neu formierten Kanton Genf zugeschlagen. Pittoresk ist die Uferpromenade; vor der Klimawende wurde sie im Winter gelegentlich in einen dicken, expressiven Eispanzer gepackt, dank den tiefen Temperaturen, der scharfen Bise und der Gischt des Sees.
Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Photoramacolor AG / AIC_02-0P-702110-006 / CC BY-SA 4.0
Die Überbauung an der Rue du Vieux Moulin ist am unteren Bildrand dieser Aufnahme von 1999 zu erkennen. In den Nullerjahren erfolgte am südlichen Ende ein viergeschossiger Anbau, der den Kreisbogen ergänzt.
Habitations Bon Marché
Wenige Schritte von der Uferpromenade entfernt, beim linken Ufer des Flusses Versoix und zwischen Bahn und Hauptstrasse, befindet sich die Rue du Vieux Moulin. Sie wurde in den 1950er-Jahren als Sackgasse angelegt und schmiegt sich an eine gleichzeitig realisierte kleine Wohnsiedlung, ein dreigeschossiges unterkellertes Reihenhaus mit Walmdach. Die Bauzeile ist gekrümmt, sie bildet einen Kreisbogen, der sich auf der Strassenseite nach Osten, zum Ortskern, öffnet und dem Grünraum am Flussufer gewissermassen den Rücken zukehrt.
Bei der Form denkt man an die Hufeisensiedlung in Berlin oder den Royal Crescent im englischen Bath, auch wenn das Ganze fragmentarisch wirkt und Ausdehnung wie Freiraum weitaus geringer sind als bei diesen berühmten Beispielen. Dennoch erzeugt die Architektur ein Gemeinschaftsgefühl. Dies passt gut zur Eigentümerin, der Fondation HBM Jean Dutoit (FJD). HBM steht für Habitations Bon Marché, also günstige Mietwohnungen. HBM ist eine Genfer Spezialität, mit der der Kanton seit den 1920er-Jahren, aber vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg in die bauliche Entwicklung auf seinem Gebiet eingreift, unter anderem zum Verhindern einer Wohnungsnot oder der Bildung von «Ghettos». Heute verwalten öffentlich-rechtliche HBM-Stiftungen über 8000 Wohnungen in etwas weniger als 20 Gemeinden des Kantons Genf. 2001 entschied der Kantonsrat, die bisherigen neun Stiftungen auf vier zu reduzieren, unter ihnen die FJD. Der Namensgeber Jean Dutoit (1908 – 1985) war von 1954 – 1961 Genfer Staatsrat und für epochale planerische Entscheide zuständig.
Die FJD kam kürzlich zum Schluss, dass der bestehende Bau in Versoix mit seinen 30 Wohnungen, ein Werk des Architekten Charles Billaud, das Ende seiner Lebensdauer erreicht hat. Er soll einem Ersatzneubau weichen, welcher den heutigen Anforderungen in jeder Hinsicht gerecht wird und auch dem ökologischen Standard SNBS-Hochbau 2023.1 entspricht. Dazu schrieb sie Ende 2024 einen offenen Projektwettbewerb aus. Projektperimeter war der nördliche Teil der bestehenden Parzellen, welche im Westen von der Versoix, im Osten von einem kanalartigen Seitenarm des Flusses begrenzt wird. Er umfasste auch die Strasse. Das südliche Ende des Kreisabschnitts besteht seit den Nullerjahren aus einem viergeschossigen Gebäude. Nur der nördliche Anschlussteil dieser architektonisch wenig ambitionierten Verlängerung des Kreisbogens ist im Besitz der FJD. Er war bei der Planung des Ersatzneubaus zu erhalten.
Quelle: Giulia Brena, Pablo Brenas, Robin Delerce, Paule Perron, Erik Dhont
Der Blick auf die Strassenfassade zeigt, dass vor den geschlossenen Fassadenteilen begrünte Sickerflächen geplant sind.
Quelle: Giulia Brena, Pablo Brenas, Robin Delerce, Paule Perron, Erik Dhont
In der Gemeinschaftszone, die von der Front- zur Rückfassade reicht, erlauben Faltwände eine Unterteilung der Räume. In der Aufstockung optimiert ein Obergaden die Versorgung mit Tageslicht.
Um eine Etage hochgestemmt
Von den Entwurfsteams wurde ein Wohnungsmix aus kostengünstigen Drei- bis Fünfzimmer-Wohnungen verlangt, 105 Zimmer insgesamt, dieselbe Zahl, die auch der Vorgängerbau aufweist. Es wird mit dem Ersatzneubau also nicht eine Verdichtung an diesem zentrumsnahen Standort angestrebt. «Halbzimmer» waren ausdrücklich nicht erwünscht, Küchen mit Essplatz mussten als separate Räume eingeplant werden. Das Erdgeschoss war für gemeinschaftliche Nutzungen einzurichten, mit einem Gruppenraum von 50 Quadratmetern, Veloeinstellplätzen, individuellen Abstellkammern im Sinne von Kellerabteilen und allgemeinen Technikräumen. Auf eine Unterkellerung war aus ökologischen Gründen zu verzichten, die Menge der Parkplätze musste jene des kantonalen Reglements um 30 Prozent unterschreiten.
Quelle: Brena, Brenas, Delerce, Perron, Dhont
Die Wohnungen in den unteren Geschossen (unten) und in der Aufstockung bieten drei bis fünf Zimmer.
Die Jury hatte 41 Projekte zu begutachten. Fast alle respektierten den bestehenden «Fussabdruck» und den aktuellen Verlauf der Strasse und schlugen somit eine Neuinterpretation des Kreisabschnitts vor. Nur ein Vorschlag enthielt zwei Volumen, von denen eines am kanalartigen Nebenarm platziert wurde, und eine veränderte Strassenführung. Das Verfahren endete mit der Empfehlung der Jury, das Projekt «Darla» weiter bearbeiten zu lassen. Es stammt von Pablo Brenas, Villard-de-Lans (FR), Giulia Brena, Genf, Paule Perron, Annemasse (FR), Robin Delerce, Annemasse (FR), für die Innenarchitektur und Erik Dhont, Genf, als Landschaftsarchitekt.
Das Projekt «Darla» möchte die Systematik des bestehenden Gebäudes und auch Teile von dessen Stahlbetonstruktur übernehmen, insbesondere die Wandteile, welche in der Querrichtung verlaufen, und die bestehenden Geschossdecken. Die Lage der fünf Treppenhäuser bleibt daher dieselbe. Allerdings werden die Wohnungen, wie im Programm vorgegeben, um ein Geschoss in die Höhe gestemmt, wodurch sich zwingend eine Aufstockung ergibt.
Auf Erdgeschossniveau präsentiert das Projekt eine regelmässige Abfolge von zehn geschlossenen, kernartigen Elementen. In ihnen befinden sich abwechslungsweise die ebenerdigen Zugänge zu den neuen Treppenhäusern mit Lift und die Abstellräume. Die Räume zwischen diesen Elementen sind offen, teilweise verglast. In den frei zugänglichen Zwischenräumen, die auch den rückwärtigen Grünraum am Flussufer erschliessen, sind die Hauseingänge untergebracht, in den verglasten oder vergitterten Partien Angebote für alle Mietparteien: der Gemeinschaftsraum, die Waschküche mit Trocknungseinrichtungen, die Veloeinstellplätze. Am nördlichen Ende schlägt das Entwurfsteam ein Café vor, mit Aussensitzplätzen sowohl auf der Strassen-, wie auch auf der Parkseite.
Die drei Obergeschosse erhalten grosszügige, von der Struktur abgehängte Balkonschichten. Jene auf der konvexen Flussseite ist durchgehend, jene auf der konkaven Strassenseite wird von den Treppenhäusern unterbrochen. Alle Wohnungen sind in zwei Richtungen orientiert. Über den Öffnungen im Erdgeschoss sind die Fassaden durchgehend und geschosshoch verglast, die modulare Systematik des Bestandsbaus wird hier in einer Leichtbauweise weitergeführt. Die Wohnungseingänge führen in ein Raumkontinuum mit Wohnzone und Küche, das quer durch das Volumen reicht. Faltwände ermöglichen eine Gliederung dieser internen Gemeinschaftszone in drei Bereiche, womit der Wunsch der Bauherrschaft nach einer geschlossene Küche elegant und zeitgemäss gelöst ist.
Die bestehende Ordnung bestimmt auch die Organisation der Aufstockung, die in Holzbauweise ausgeführt werden soll. Deren Lasten, welche auch jene der abgehängten Balkonschichten umfassen, werden neben der Bestandsstruktur ins Erdreich abgeleitet. Bei der Grundrissplanung ergeben sich in diesem neuen Geschoss, das ebenfalls auf der bestehenden Decke entstehen soll, etwas grössere Freiheiten; so liess sich hier das Raumkontinuum der internen Gemeinschaftsräume in der Diagonale führen, ein Dachaufbau mit Obergaden bringt Tageslicht in die zentralen Zonen der Wohnungen.
Quelle: Brena, Brenas, Delerce, Perron, Dhont
Das Erdgeschoss ist eine Abfolge von geschlossenen und durchlässigen Partien, die teilweise verglast oder vergittert sind.
Quelle: Brena, Brenas, Delerce, Perron, Dhont
Das Siegerprojekt ergänzt die Breite des bestehenden Grundrisses um vorgehängte Balkonschichten.
Ressourcen wiederverwenden
Die Wohnungen werden bei diesem Projekt im Vergleich mit dem Vorgängerbau mehr Licht, Luft und Sonne erhalten, obwohl die Raumhöhen in den beiden unteren Geschossen dieselben bleiben. Die Ausdehnung der Wohnungsflächen ist relativ bescheiden, der Raumgewinn beschränkt sich auf die Verlagerung der bisher ins Volumen eingerückten Balkone in die vorgehängten Fassadenschichten. Von der verfügbaren Fläche her wird hier noch immer ein HBM-Wohnstandard vorherrschen.
Interessant macht das Projekt die zahlreichen Vorschläge zur Weiter- und Wiederverwendung der Bestandsstruktur. Auch die entfernten Teile, die Decken des aktuellen Erdgeschosses, Brüstungsbereiche etc. sollen auf dem Bauplatz ein neues Leben erhalten. Das Entwurfsteam denkt etwa an die Auffüllung des bestehenden Kellers und an wasserdurchlässige Bodenbeläge auf dem Areal. Es bleibt abzuwarten, ob die gut 70-jährige Struktur des Bestandsbaus die Hoffnungen tatsächlich erfüllen kann, die in sie gesetzt werden.
Quelle: Brena, Brenas, Delerce, Perron, Dhont
Das Siegerprojekt will wesentliche Strukturteile des Bestandsbaus übernehmen, was die Raumgliederung bis in die Aufstockung prägt. Abbruchmaterial möchte man für die Auffüllung des Kellers und die Umgebungsgestaltung nutzen.
Nachgefragt... bei Renaud Dupuis
Quelle: Atelier Nord
Renaud Dupuis, Architekt und Gründer des Büros Atelier Nord, Genf, ist Präsident der Baukommission der Fondation HBM Jean Dutoit.
Weshalb strebte man bei diesem Bauvorhaben keine höhere Dichte an?
Versoix befindet sich im Fluglärmkorridor von Genf-Cointrin. Die Lage liess eigentlich gar keinen Neubau zu. Es brauchte zahlreiche Diskussionen, bis wir die Genehmigung erhielten, das bestehende Gebäude abzureissen und neu zu errichten, jedoch ohne Erhöhung der Bebauungsdichte und unter Verwendung möglichst «nachhaltiger» Baumaterialien. Aus diesem Grund soll auch das bestehende Untergeschoss entfernt und mit den Materialien des abgerissenen Gebäudes aufgefüllt werden.
Ist es der FDJ möglich, die Einrichtung eines Cafés zu gestatten, wie es der siegreiche Wettbewerbsentwurf vorschlägt?
Die HBM-Stiftungen möchten Erdgeschosse ohne Wohnungen aber mit Gemeinschaftsnutzungen. Ein Café ist möglich und wurde auch schon bei anderen HBM-Projekten realisiert.
Das Siegerprojekt möchte Teile der bestehenden Beton-Tragstruktur aus den 1950er-Jahren weiterverwenden. Wurde schon geprüft, ob dies möglich ist?
Es wurde anfänglich eine Schnellstudie durchgeführt, aber dieser Punkt muss natürlich anhand des Siegerprojektes noch genauer geklärt werden. Mehrere der Gebäude, die wir renovieren, müssen hinsichtlich der aktuellen Erdbebensicherheitsnormen verstärkt werden, und die Tragstruktur dieses Gebäudes bildet da keine Ausnahme!
Die Eingänge und Gemeinschaftsräume befinden sich auf Strassenniveau und wenige Meter vom Fluss Versoix entfernt. Besteht hier keine Hochwassergefahr?
In den letzten Jahren wurden an der Versoix oberhalb des Grundstücks Arbeiten durchgeführt, die zu starke Hochwasser verhindern sollen. Dieser Punkt wurde mit dem kantonalen Wasserbauamt besprochen.
Welches ist der aktuelle Stand des Projekts? Kann man schon ein Datum für den Spatenstich nennen?
Die ersten Treffen mit den Architekten haben stattgefunden, es wird jetzt am Vorentwurf gearbeitet. Einen Zeitplan gibt es noch nicht. Das Baugesuch soll nächstes Jahr eingereicht werden, damit die Arbeiten im Jahr darauf beginnen können. Abgesehen von der Bearbeitung dieser «technischen» Daten ist die FJD schon jetzt damit beschäftigt, alle Bewohnerinnen und Bewohner vor Beginn der Arbeiten umzusiedeln.
(Interview: Manuel Pestalozzi)