08:03 BAUPRAXIS

Wohnhaus Rütibühl in Herrliberg: So viel Freiheit wie möglich

Geschrieben von: Claudia Porchet (cet)
Teaserbild-Quelle: Parameter

Im oberen Herrliberg ZH entsteht am Waldrand ein neues Zuhause für 32 Menschen mit Behinderung. Einige davon sind demenzkrank, einige zeigen ein sogenanntes «herausforderndes Verhalten», was bauliche Konsequenzen hat.

Visualisierung Wohnheim Rütibühl in Herrliberg

Quelle: Parameter

Die Häuser sind mit einer Holzfassade ausgestattet, was den weilerhaften Charakter der Anlage verstärkt.

Die Martin-Stiftung bietet in den Zürcher Seegemeinden Erlenbach, Herrliberg und Stäfa rund 170 Wohn- und Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung an. Eines von sieben Wohnhäusern war das Wohnhaus Rütibühl in Herrliberg. Dieses bedarfsgerecht zu sanieren war aufgrund der verschachtelten Gebäudestruktur und aus energetischen Gründen nicht möglich.

In das fast 26 Millionen teure Projekt investiert die Martin-Stiftung rund sieben Millionen Franken. Der Kanton beteiligt sich mit sieben Millionen Franken. Weitere sechs Millionen stammen von geldgebenden Stiftungen, Unternehmen, den Landeskirchen und privaten Spendern, 1,7 Millionen tragen Darlehen und Beiträge der Gemeinden dazu bei, und rund viereinhalb Millionen werden über Hypotheken und weitere Darlehen finanziert. Die Grundsteinlegung des Ersatzneubaus fand im Mai 2022 statt.

Endlosflure und Rundwege

Im Frühjahr 2024 soll die neue Anlage bezugsbereit sein. Diese wird aus vier Häusern bestehen, in denen drei Wohngruppen in 32 Wohn- und Tagesstrukturplätze leben und arbeiten werden. Es handelt sich um vier zweistöckige Gebäude, die kreisförmig angeordnet sind. Die Häuser sind mit einer Holzfassade ausgestattet, was den weilerhaft-dörflichen Charakter der Anlage verstärkt. «Wir wollten die Gebäude optimal in die ländliche Umgebung einpassen», erklärt Mathias Blondé vom Zürcher Architekturbüro Parameter.

Im Gebäude A werden zwei Wohngruppen leben, nämlich jene 16 Frauen und Männer mit einer kognitiven Einschränkung, die schon vorher, im heute rückgebauten, «Rütibühl» waren. «Diese Menschen haben teils jahrzehntelang dort gelebt», sagt Jürg Hofer, «sie werden im Ersatzneubau ein ‹altes›, neues Zuhause finden», so der Direktor der Martin-Stiftung. «Das war unser Versprechen.»

Der obere Stock des Hauses C ist für zehn Menschen mit Behinderung und Demenz vorgesehen. Im Ersatzneubau sind die Räume hell und offen, im alten Gebäude erschwerten enge, verwinkelte und lange Gänge sowie Treppen die Orientierung und die Fortbewegung. «Für diese Menschen ist das Überwinden von Übergängen und insbesondere von Treppen zunehmend unmöglich», erklärt Nicole Rode in einem Interview. Sie ist Leiterin vom Lebensbereich Wohnen der Martin-Stiftung und Projektleiterin für den Neubau Rütibühl. «In den neuen Gebäuden ist alles ebenerdig, zudem gibt es einen grossen Lift für Rollstühle und Betten. Auch haben Menschen mit Demenz einen grossen Bewegungsdrang, deshalb sind Endlosflure und Rundwege nötig.»

Spezielle Signaletik

Aber auch in den Aussenräumen kann man sich gut zurechtfinden. Der Garten ist einfach gestaltet mit Wald, offener Wiese und verschiedenen Aufenthaltsorten. Diese sind sinnvoll platziert und durch ein Wegsystem miteinander verbunden. Da der Garten geschützt ist, können die Bewohner und Bewohnerinnen allein spazieren gehen.

Damit sie sich besser orientieren können, hat sich das Architekturbüro Parameter in Zusammenarbeit mit den Signaletikplanerinnen von «m_d_buero» intensiv mit Signaletik auseinander gesetzt. «Wir arbeiten an der guten Erkennbarkeit von Situationen», führt Blondé aus, «dass man die Eingangstüre ganz klar erkennt und nicht mit einem raumhohen Fenster verwechselt.» Die Architekten und Signaletikerinnen arbeiten aber nicht nur mit Schrift, sondern auch mit verschiedenen Reliefs und unterschiedlichen Farbkonzepten daran, dass die Menschen ihre Stationen, den Mehrzweckraum, die Cafeteria oder die Therapieräume finden. Die individuelle Gestaltung ist der Bauherrin, der Martin-Stiftung wichtig. «Wir möchten nicht, dass alles gleich aussieht, sondern dass es Variationen gibt», ergänzt Hofer.

Situationsplan Wohnheim Rütibühl in Herrliberg

Quelle: Parameter

Die vier Wohnhäuser sind kreisförmig angeordnet. Der Platz in der Mitte ist zum Verweilen und Plaudern gedacht.

Ruhige Umgebung

Dass der Ersatzneubau mitten in der Natur am Waldrand liegt, ist für die sechs Bewohnerinnen und Bewohner wichtig, die im Erdgeschoss des Hauses C leben werden. Diese Menschen mit «herausforderndem Verhalten» leben idealerweise in einer reizarmen, abgeschiedenen, ruhigen Umgebung. In einer Broschüre der Martin-Stiftung erfährt man, dass viele Menschen mit herausforderndem Verhalten mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) leben. Es kommt vor, dass sie sich in gewissen Situationen völlig ohnmächtig fühlen und aus dieser Ohnmacht heraus Gewalt gegen sich oder gegen ihre Umwelt ausüben.

«Wenn sie zu vielen Reizen ausgesetzt sind oder ihre Routine gestört wird, kann es vorkommen, dass sie Dinge zerstören», erklärt Hofer. Deshalb haben diese sechs Menschen Einzelzimmer und eine Loggia für sich. Das Glas ist Schutzglas und die Wände sind besonders stark gedämmt, so dass man nicht hören kann, was im Nebenzimmer geschieht. Die Zimmer seien so konzipiert, dass man nichts aus den Wänden reissen könne, erläutert Mario de Capitani. «Wichtig ist auch, dass es keine Ecken gibt, so dass man sich nicht verletzen kann», so der Präsident der Baukommission und Vizepräsident des Stiftungsrats. «Die Wasserhähne muss man auch von aussen abdrehen können für den Fall, dass die Bewohnerinnen und Bewohner vergessen, die abzustellen.»

Wohnlichkeit geht vor

Zur Diskussion standen auch WCs und Lavabos aus Stahl, die man kaum herausreissen kann. Dass man diese nicht, sondern Spülbecken und Toiletten aus Keramik installiert, ist indessen sicher. «Es ist immer ein Abwägen, was kann vandalisiert werden, und wie schafft man eine wohnliche Atmosphäre, in der sich die Bewohnerinnen und Bewohner geborgen fühlen», erklärt Blondé. 

Das Büro Parameter und auch die Martin-Stiftung wollen verhindern, dass die Räume wie Zellen wirken, sondern wie Orte, an denen man sich gerne aufhält. «Wir sind in der Projektphase immer mehr von speziellen Möblierungen weggekommen», erklärt Blondé. «WCs und Lavabos aus Chromstahl haben wir verworfen. Vieles hängt vom Seelenzustand der Bewohnerinnen und Bewohner ab, bei einer guten Entwicklung sind solche Massnahmen nicht nötig», so Blondé, «und im Nachhinein eine Chromstahltoilette einzubauen, geht immer.»

Der Ersatzneubau ist für die sechs künftigen Bewohnerinnen und Bewohner mit auffälligem Verhalten wichtig. Die Infrastruktur ist teuer. «Es gibt viel zu wenige Angebote im Kanton Zürich», ergänzt Hofer. «Menschen mit auffälligem Verhalten oder kognitiver Beeinträchtigung und Demenz stehen oft vor verschlossenen Türen. Umso glücklicher sind wir, dass wir nun 16 solche Plätze anbieten können.»

Geschrieben von

Redaktorin Baublatt

Claudia Porchet ist Philologin und interessiert sich für Architekturgeschichte, Kunst am Bau und Design. Ebenso begeistern sie neue Forschungsresultate aus allen Bereichen. Zudem ist sie für die Kolumnen zuständig und steht deshalb in Kontakt mit allen grossen Verbänden.

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