Wenn Zement dank KI umweltfreundlicher wird
Mit welchen neuen Rezepturen wird Zement grüner, ohne dass er an Qualität einbüsst? Ein interdisziplinäres Forschungsteam des Zentrum für Nukleare Technologien und Wissenschaften des Paul Scherrer Instituts hat eine KI-gestützte Modellierungsmethode entwickelt, die solche Rezepturen liefern kann.
Dank Künstlicher Intelligenz (KI) könnte Zement grüner und umweltfreundlicher werden. Das heisst, in dem mittels KI an seiner Rezeptur gefeilt und der Anteil Klinker mit zementartigen Materialalternativen ersetzt wird. Dies ist die Idee eines interdisziplinären Forschungsteams am Zentrum für Nukleare Technologien und Wissenschaften am Paul Scherrer-Institut (PSI): Die Fachleute haben dazu im Rahmen einer Studie eine eigene KI-gestützte Modellierungsmethode entwickelt. «Damit können wir Zementrezepturen simulieren und so optimieren, dass sie bei gleich hoher mechanischer Qualität deutlich weniger CO₂ ausstossen», erklärt Romana Boiger, Erstautorin und Mathematikerin. «Anstatt Tausende Varianten im Labor zu testen, generiert unser Modell innerhalb von Sekunden konkrete Rezeptvorschläge – wie ein digitales Kochbuch für klimafreundlichen Zement.»
Mit ihrem neuartigen Ansatz schafften es Boiger und ihre Kollegen, gezielt jene Zementrezepturen herausfiltern, welche die gewünschten Kriterien erfüllen. «Die Bandbreite möglicher Materialzusammensetzungen – die letztlich die Eigenschaften des Zements bestimmen – ist enorm», sagt Nikolaos Prasianakis, Leiter der Gruppe Transportmechanismen am PSI, Initiator und Mitautor der Studie. «Unsere Methode ermöglicht es, den Entwicklungszyklus deutlich zu beschleunigen, indem vielversprechende Kandidaten ausgewählt und gezielt in experimentellen Untersuchungen weiterverfolgt werden.» - Die Ergebnisse der Studie sind in der Fachzeitschrift Materials and Structures erschienen.
«Man könnte sagen: Wir betreiben Geologie im Zeitraffer.»
Zwar sind Sekundärrohstoffe wie Schlacke aus der Roheisengewinnung oder Flugasche aus der Kohleverbrennung schon heute Teil von Zementrezepturen, damit Klinker gespart und CO₂-Emissionen gesenkt werden können. Aber der globale Bedarf an Zement ist derart gigantisch, dass diese Nebenprodukte nur einen Bruchteil davon abdecken können.
«Was wir brauchen, ist die richtige Kombination an Materialien, die in grossen Mengen verfügbar sind und aus denen sich hochwertiger und zuverlässiger Zement produzieren lässt», sagt John Provis, Leiter der Forschungsgruppe für Zementsysteme am PSI und Mitautor der Studie. Zement sei im Grunde ein mineralisches Bindemittel. «Im Beton erzeugen wir mit Zement, Wasser und Kies künstlich Minerale, die das gesamte Material zusammenhalten», so Provis. «Man könnte sagen: Wir betreiben Geologie im Zeitraffer.» Weil hierbei die Geologie oder vielmehr die dahinterliegenden physikalischen Prozesse enorm komplex und ihre Modellierung am Computer entsprechend rechenintensiv und teuer ist, setzt das Forschungsteam auf KI.
Schneller rechnen und ermitteln mit Hilfe von KI
Künstliche neuronale Netzwerke sind Computermodelle, die auf Basis bestehender Daten trainiert werden, um komplexe Berechnungen zu beschleunigen. Beim Training wird das Netzwerk mit einem bekannten Datensatz gefüttert und «lernt» daraus, indem es die Gewichtung seiner internen Verknüpfungen so anpasst, dass es ähnliche Zusammenhänge rasch und zuverlässig vorhersagen kann. Diese Gewichtung dient als eine Art Abkürzung – ein schneller Ersatz für die sonst rechenintensive physikalische Modellierung. Auch das Forschungsteam am PSI setzte ein solches neuronales Netzwerk ein.
Die für das Training benötigten Daten erstellten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaflter gleich selbst: «Mithilfe der am PSI entwickelten Open-Source-Software GEMS für thermodynamische Modellierung berechneten wir für verschiedene Zementrezepturen, welche Mineralien sich beim Aushärten bilden und welche geochemischen Prozesse dabei stattfinden», erklärt Prasianakis. Durch die Kombination dieser Ergebnisse mit experimentellen Daten und mechanischen Modellen konnte das Team einen verlässlichen Indikator für die mechanischen Eigenschaften ableiten – und damit für die Materialqualität des Zements. - Zusätzlich ist für jede eingesetzte Komponente ein zugehöriger CO₂-Faktor respektive ein spezifischer Emissionswert herangezogen worden, um den Gesamt-CO₂-Ausstoss zu ermitteln. Prasianakis dazu: «Das war eine sehr komplexe und rechenintensive Modellierungsarbeit.» Der Aufwand hat sich gelohnt. Boiger erklärt dazu: «Statt Sekunden bis Minuten schaffen wir mit dem trainierten Netzwerk die Berechnung der mechanischen Eigenschaften für ein beliebiges Zementrezept in Millisekunden – also rund tausendmal schneller als beim klassischen Modellieren», weiss Boiger.
Der KI die richtige Frage nach der perfekten Rezeptur stellen
Doch findet man nun mit dieser KI die optimalen Zementrezepturen konkret – mit tiefen CO₂-Emissionen und einer hohen Materialqualität? Statt einfach alle Optionen durchzutesten, fragten die Forscher nach der Zementzusammensetzung, welch die gewünschten Vorgaben bezüglich CO₂-Bilanz und Materialqualität erfüllt. Dies, weil sowohl die mechanischen Eigenschaften als auch die CO2-Emissionen direkt von der Rezeptur abhängen. «Mathematisch betrachtet sind beide Grössen Funktionen der Zusammensetzung – ändert sich diese, so ändern sich auch die jeweiligen Eigenschaften», erklärt Boiger. Darum formulierte das Team das Problem als mathematische Optimierungsaufgabe: Gesucht ist eine Zusammensetzung, bei der die mechanischen Eigenschaften maximiert und gleichzeitig die CO₂-Emissionen minimiert werden.
Boiger dazu: «Im Grunde suchen wir ein Maximum und ein Minimum – daraus können wir direkt auf die gewünschte Rezeptur schliessen.» Der Vorteil dieses Wegs: Man muss sich nicht mehr blind durch zahllose Rezepturen testen und deren Eigenschaften bewerten, sondern kann gezielt nach solchen suchen, die bei minimalem CO₂-Ausstoss maximale mechanische Eigenschaften bieten.
Bereits Rezepturen mit «echtem Potenzial» gefunden
Laut der Medienmitteilung des PSI, finden sich unter den von den Forscherinnen und Forschern identifizierten Zementrezepturen bereits «vielversprechende Kandidaten». «Einige dieser Rezepturen haben echtes Potenzial», sagt John Provis. «Nicht nur in Bezug auf CO₂-Einsparung und Qualität, sondern auch, was die praktische Umsetzbarkeit in der Produktion betrifft.» Um den Entwicklungszyklus abzuschliessen, müssen die Rezepte jedoch erst noch im Labor getestet werden. «Wir bauen jetzt nicht gleich einen Turm damit, ohne sie vorher zu prüfen», schmunzelt Nikolaos Prasianakis. (mgt/mai)