12:09 VERSCHIEDENES

Taubentürme auf Tinos: Wo Vögel fürstlich residieren

Geschrieben von: Katrin Ambühl
Teaserbild-Quelle: Katrin Ambühl

Die kleine Kykladeninsel Tinos ist ein Bijou: Sorgfältig terrassierte Hügel, perfekt an die Berge angeschmiegte Dörfer, felsige Buchten. Dann sind da noch die kleinen Bauten mit den Türmchen und Ornamenten. Es sind Taubentürme, die die Venezianer während ihrer Besatzung errichtet hatten. Heute gibt es noch etwa 800 davon.

Zwei Taubentürme auf Tinos.

Quelle: Katrin Ambühl

Zwei Taubentürme in der Bucht von Livada im Norden von Tinos. Jeder Turm ist anders gestaltet, insbesondere der obere Bereich mit den Öffnungen aus aufgeschichteten Schieferplatten.

Restaurants gibt es Dutzende in Tinos-Stadt, dem Hauptort der nördlichen Kykladeninsel. Und neben bekannten griechischen Gerichten findet sich auf mancher Speisekarte etwas Ungewöhnliches: Pitsounia, Eintopf aus Taubenfleisch und Tomatensauce. Dass Tauben überhaupt den Weg in die Töpfe von Tinos fanden, ist den Venezianern zu verdanken, die zwischen 1207 und 1714 die Kykladeninsel beherrschten. Die italienischen Besatzer liebten die Tauben und bauten ihnen schmuckvolle Behausungen und Nistplätze. Die Vögel wurden einerseits als Brieftauben eingesetzt, andererseits war aber das grosse Geschäft der Dünger: Taubenmist galt damals als effizienteste Bodennahrung in der Landwirtschaft und wurde fleissig exportiert. Ob die Turmerbauer die Tauben auch gegessen haben, ist nicht erwiesen. Doch als die Besatzer Tinos verliessen, züchteten die Einheimischen die Tauben weiterhin und bauten auch neue Türme. Die neuen Gebäude, besonders jene aus dem 19. Jahrhundert, sind grösser und monumentaler als die ursprünglichen. Das Federvieh wurde auf Tinos zur Nahrungsquelle, und insbesondere in Krisenzeiten war Taubenfleisch überlebenswichtig für die Einwohner der kargen Insel. Die Taubenzucht im grossen Stil wurde in den 1930er-Jahre zwar aufgegeben, doch einige der Türme werden heute noch von Tauben bewohnt, und Jungtauben gelten nach wie vor als Delikatesse. 

Die Gebäude sind alle gleich und streng nach Funktionalität konstruiert. Die Tauben sollten ungestört sein, Ruheplätze an der Südseite der Türme – vom kräftigen Nordwind geschützt –finden und in der Nähe eine Wasserstelle haben. Das Erdgeschoss der zweistöckigen Bauten war für Werkzeuge konzipiert. Im oberen Stockwerk, den die Tauben über eine Öffnung im Boden oder Schlitze in der Fassade erreichten, befanden sich die Nester und der Ruhebereich. Zwischen 200 bis 500 Vögel konnten in den bis zu 6m hohen und rund 12qm grossen Unterkünften nisten und leben. Der Zugang zu den Nestern im oberen Teil wurde bei Bedarf mit Leitern hergestellt. Dank dieser Konstruktion waren die Taubennester geschützt vor Eindringlingen wie Katzen oder Schlangen. 

Kalkstein und Schiefer

Während die Nordfassade der Taubentürme schlicht und gerade ist, wurde die Südseite oftmals zickzackartig gebaut, um die Sonneneinstrahlung zu erleichtern und mehr Raum für Ruheplätze zu schaffen. Bei einigen Bauten wurden die Kanten der Gebäude mit Windschutzmauern verlängert. Markantestes Element der Gebäude ist neben den vier Türmchen die obere Fassadengestaltung. Sie wurde aus Hunderten dünnen Schieferplatten gestaltet, die wie bei einem Kartenhaus gestapelt wurden und so die Öffnungen für die Tauben bilden. Die Gestaltung dieser durchlässigen Fassadenteile ist sehr unterschiedlich und äusserst kunstvoll. Die aus Italien importierten Handwerker waren offensichtlich geprägt von der Barockzeit und haben sich beim Bau künstlerisch richtiggehend ausgetobt. Sie haben die Schieferplatten zu geometrischen Mustern wie Quadraten, Dreiecken, Kreisen, Sonnen oder Blumen kombiniert, sodass jeder Taubenturm seinen ganz eigenen Charakter hat. Diese Bauperlen sind zwar heute nicht denkmalgeschützt, aber die Einheimischen sind stolz darauf und renovieren viele Türme oder integrieren sie sogar in grössere Bauprojekte als gestalterische Elemente.

Zwei lokale Steinarten, Kalkstein und Schiefer, waren der Baustoff für die Taubenhäuser. Auch die ganze Bewirtschaftung war lokal und nachhaltig: Das Taubenfutter bestand aus Abfallstoffen aus der Weinproduktion, der Vogelmist wiederum wurde als Dünger in der Landwirtschaft genutzt. Die Taubentürme sind also nicht nur attraktive Touristenattraktionen, sie sind auch Zeugen einer perfekt funktionalen Bauweise und ein Musterbeispiel für Kreislaufwirtschaft alla Veneziana.


Auch interessant

Anzeige

Firmenprofile

Post Baulogistik AG

Finden Sie über die neuen Firmenprofile bequem und unkompliziert Kontakte zu Handwerkern und Herstellern.

Reports

construction-report

Die neuen Baublatt Reports

Neben dem Report Baublatt Project Categories (ehem. Baublatt Analyse), bieten wir ab sofort zwei weitere brandneue Reports als Zusatz. Erfahren Sie hier was Baublatt Top Players und Baublatt Regional Projects zu bieten haben – wie gewohnt digital, prägnant und graphisch auf den Punkt gebracht.

Dossier

Spannendes aus Print und Online für Abonnenten
© James Sullivan, unsplash

Spannendes aus Print und Online für Abonnenten

Dieses Dossier enthält die Artikel aus den letzten Baublatt-Ausgaben sowie Geschichten, die exklusiv auf baublatt.ch erscheinen. Dabei geht es unter anderem um die Baukonjunktur, neue Bauverfahren, Erkenntnisse aus der Forschung, aktuelle Bauprojekte oder um besonders interessante Baustellen.

Bauaufträge

Alle Bauaufträge

Newsletter abonnieren

newsico

Mit dem Baublatt-Newsletter erhalten Sie regelmässig relevante, unabhängige News zu aktuellen Themen der Baubranche.