08:33 VERSCHIEDENES

Ausstellung im Vitra Design Museum: Schöne, neue Welt aus Plastik

Geschrieben von: Silva Maier (mai)
Teaserbild-Quelle: Amsterdam Bakelite Collection

Auf der Suche nach Alternativen zu stark nachgefragten Naturstoffen entstanden frühe Kunststoffe wie Bakelit und schliesslich Plastik. Es eröffnete damals im Design völlig neue Möglichkeiten, heute verschmutzt es die Umwelt. Wieder sind Alternativen gefragt. Darum geht es in der  Ausstellung „Plastik. Die Welt neu denken“ im Vitra Design Museum und im dazugehörigen Buch.

Aufnahme von Richard John Seymour, aus der Serie "Yiwu Commodity City", 2015

Quelle: Richard John Seymour

Alles so schön bunt hier: Aufnahme von Richard John Seymour, aus der Serie "Yiwu Commodity City", 2015

Versuchen wir, uns einen Bewohner des Kunststoffzeitalters vorzustellen», schrieben die britischen Chemiker und Kunststoffpioniere Victor Yarsley und Edward Couzens in ihrem Band «Plastics», in dem es um Polymere geht und den sie kurz nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht hatten. Die Zukunft, die sie darin prophezeien, ist sauber und perfekt. «Dieser Plastikmensch wird in eine Welt voller Farben und leuchtender Oberflächen geboren. Er wird inmitten von unzerbrechlichem Spielzeug und abgerundeten Ecken und abriebfesten Wänden aufwachsen. Es wird in seiner Welt keine scharfen Kanten oder splitternden Oberflächen geben, keine Fäulnis und keinen Verfall. Die Kleidung wird Schmutz abweisen und keine Falten bilden. Er wird in leichten Autos, Booten und Flugzeugen reisen, sich von Shows auf Plastikfilm unterhalten lassen und Musik aus kunststoffummantelten Radios hören.»

Die Geschichte des Kunststoffs nahm viel früher ihren Anfang. Mindestens ein Jahrhundert bevor Yarsleys und Couzens’ kleines Werk in Druck gegangen war: Während im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert der Wohlstand stiegt, wuchs eine Mittelschicht wuchs heran, die sich einen bescheidenen Luxus leisten konnte. Und damit erhöhte sich auch die Nachfrage nach Produkten, die es zum Beispiel für die Herstellung von Möbeln, Besteck, Geschirr oder Haarbürsten brauchte. Dasselbe galt für neuartige technische Entwicklungen, für die Materialien benötigt wurden, deren Bedarf bislang eher gering gewesen war, etwa Harz und Kautschuk.

Guttapercha isolierte Kabel

Ein Beispiel dafür sind die Telegrafie und das aus dem Saft des gleichnamigen Baumes gewonnene Guttapercha, ein gummiartiges Material, das in Malaysia während Jahrhunderten für Messergriffe verwendet worden ist. Als korrosionsbeständiges, wasserfestes, stabiles, biegsames und elektrisch nicht leitfähiges Material verfügte es über die perfekten Eigenschaften für die Isolation von Kupfer- respektive Telegrafenkabeln. Unter anderem umhüllte man damit 1850 die weltweit erste Unterseeleitung dieser Art, sie ermöglichte es, über eine Strecke von rund 40 Kilometern zwischen England und Frankreich zu kabeln.

Acht Jahre später wurde die erste Telegrafenverbindung zwischen Europa und Amerika installiert – auch hier kam Guttapercha als Isolation zum Einsatz. Je mehr Telegrafenkabel verlegt wurden, umso mehr stieg die Nachfrage nach dem Naturmaterial: Für die Isolation von 10 000 Seemeilen Kabel, brauchte es rund eine Million Guttarpercha-Bäume. In der Folge starb der Baum in manchen Regionen praktisch aus. – Solche Entwicklungen befeuerten die Suche nach Alternativen und die Erfindung neuartiger Kunststoffe – und letztlich des Plastiks.

Einer jener Stoffe war Parkesin: Der britische Erfinder und Metallurge Alexander Parkes hatte Zellulose mit Salpetersäure und Lösungsmittel behandelt – und damit in den 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts einen Kunststoff geschaffen, der ähnliche Eigenschaften wie Elfenbein aufwies und aus dem sich etwa Schreibgeräte oder Kämme formen liessen. Später wurde mit Zelluloid ein ähnliches Material entwickelt.

Und zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam das ebenfalls nach seinem Erfinder, dem Amerikaner Leo Baekeland, benannte Bakelit hinzu. Seine glatte Oberfläche, seine Härte und seine Stabilität, aber auch, dass es in unterschiedlichste Formen gegossen und ihm jede gewünschte Farbe verliehen werden konnte, prädestinierten es für alle möglichen Verwendungen. Zum Beispiel als Türgriff aber auch als Schmuck. Weil Bakelit zudem nicht leitfähig ist, stellte man daraus auch Gehäuse von elektrischen Geräten her, zum Beispiel von Radios, Telefonen und später auch von Fernsehern.

Nylon und der Zweite Weltkrieg

Plastik entstand allerdings weniger aus der Suche nach einem Ersatz heraus, als vielmehr aus dem Bedürfnis, kein Material zu verschwenden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand man einen Weg, mittels Crackverfahren Kohlenwasserstoffe – zum Beispiel Ethylen, Prophylen und Benzol – aus Rohöl zu isolieren. Aus diesen Nebenprodukten der Ölindustrie liessen sich wiederum zahllose neue Stoffe herstellen. Ab den 1920er-Jahren entstanden unter anderem Polyacryl, Polystyrol, Nylon, Teflon, Neopren oder Polyethylen. «Die meisten dieser Thermoplaste waren vielseitig und wandlungsfähig in der Form, und sie eigneten sich besser als Bakelit oder Zelluloid für die Massenproduktion», schreibt Wissenschaftsjournalistin Susan Freinkel in ihrem Essay im Band zur Ausstellung.

Weil man derartige Wunderstoffe vor allem für kriegsrelevante Produkte brauchte, fanden sie erst nach dem Zweiten Weltkrieg Eingang in den Alltag. Dies galt etwa für Nylon, aus dem Fallschirme produziert wurden, und das unter anderem auch bei der Herstellung von Autoreifenmänteln oder Treibstofftanks zum Einsatz kam. Diese Situation befeuerte aber auch die Weiterentwicklung: «Unter dem Produk-tionsdruck reifte die Kunststoffindustrie heran und verbesserte und verfeinerte ihre Verarbeitungs- und Herstellungsmöglichkeiten», so Freinkel. «Die Anforderungen des Krieges schufen bis dahin ungeahnte Verwendungszwecke für Kunststoffe. Wie sich herausstellte war Polyethylen ein hervorragendes Isoliermaterial für elektrischen Strom.»


In den Jahren nach dem Krieg stieg die Kunststoffproduktion massiv an. Es gab kaum einen Bereich, in dem Plastik nicht eingesetzt wurde: Kühlschränke, Küchenabdeckungen, Autos, Elektrogeräte, Kleider, Vorhänge, Vinyltapeten und Möbel. Das Material ermöglichte zudem völlig neue Formen, zum Beispiel den Eero Aarnios Ball Chair (1963), den Panton-Stuhl (1971) oder aber kurz darauf den bis heute allgegenwärtigen Monobloc-Stuhl (1972).

Plastikrecycling und Plastikverbote

Zuletzt bleibt die Frage, wohin der Weg führt. Kunststoffrecycling ist komplex. Auch das erfährt man im Band zur Ausstellung: Eine Expertenrunde versucht in einem Gespräch Chancen und Herausforderungen der Wiederverwertung von Plastik zu ergründen. Unter anderem geht es um das 2017 in Kenia eingeführte Ein-wegplastikverbot und darum, ob ein solches Verbot Recyclingprojekte fördert. Geht es dabei um Unternehmen wie Gjenge Makers, das aus Kunststoffmüll Ziegelsteine produziert, oder um das Projekt Flipflopi, ein vollständig aus Plastikmüll und Flipflops hergestelltes Segelboot, könnte die Antwort Ja lauten.

Trotzdem, aus der Welt schaffen lässt sich das Material nicht so einfach: «Plastiktüten sind für Menschen mit geringem Einkommen ein so praktisches wie wichtiges Hilfsmittel», sagt der kenianische Umweltaktivist James Wakibia. «Zum Beispiel lässt sich ein Zweikilozuckersack gut in kleinere Portionen aufteilen, die abgewogen und in Tüten transportiert werden.» Ein Grossteil der Wegwerfplastiktüten, die trotz hoher Strafen ins Land kämen werde von ihnen verwendet. «Es gibt keine Alternative». – Oder vielleicht ja doch?

Die Ausstellung Plastik. Die Welt neu denken im Vitra Design Museum läuft noch bis am 4. September. Weitere Information auf www.design-museum.de

Ergänzt wird die Schau von einem Buch: «Plastik. Die Welt neu denken»; Hrsg. Mateo Kries, Jochen Eisenbrand, Mea Hoffmann; Verlag Vitra Design Museum; 256 Seiten; broschiert; zahlreiche Bilder; ISBN 978-3-945852-46-0; 72 Franken 90

Geschrieben von

Chefredaktorin Baublatt

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