01:00 KOMMUNAL

Die Zahlen müssen stimmen


Auch diesen Herbst lancierten die SBB wieder die Idee eines Sonderzuschlags: Wer zu Stosszeiten auf besonders ausgelasteten Strecken reist, soll dafür mehr bezahlen. Dieser Zuschlag soll all jene Passagiere abschrecken, die nach Meinung der SBB auch zu späteren Zeiten reisen könnten: Senioren, Pendler oder Ausflügler. Doch wer pünktlich zur Arbeit erscheinen muss, kann nicht einfach den Neun-Uhr-Zug nehmen. Der Zuschlag wurde deshalb auch als «Pendlerstrafe» bezeichnet und rief fast noch mehr öffentliche Empörung hervor als eine mögliche Verteuerung der Autobahnvignette. Doch spätestens bei der nächsten Tarifrunde wird er wieder zum Thema werden. Denn die Erträge aus den Billettpreisen reichen schon lange nicht mehr aus, um die milliardenschwere Infrastruktur zu unterhalten und gleichzeitig neue Züge zu beschaffen.
Eine Gebührenerhöhung samt dazugehörigem Aufschrei der Kunden dürfte in den nächsten Jahren auch vielen Gemeindewerken bevorstehen. Denn die über Jahre, zum Teil auch Jahrzehnte gepflegte Politik, die Trinkwasser- und Abwassergebühren praktisch unverändert zu belassen, lässt sich nicht mehr lange halten. Letzten Herbst veröffentlichte das Bundesamt für Umwelt (Bafu) eine Studie zum Wiederbeschaffungswert der Umweltinfrastrukturen. Der Gesamtwert der Siedlungsentwässerung wurde darin mit rund 100 Milliarden Franken veranschlagt, der Wert der öffentlichen Trinkwasserversorgung mit etwa 110 Milliarden Franken. Um den Wert dieser Anlagen und Einrichtungen zu erhalten, sind jedes Jahr gewaltige Summen nötig. So rechnet der Schweizerische Verband des Gas- und Wasserfachs (SVGW) mit jährlichen Investitionen von 800 Millionen Franken, um das Schweizer Trinkwassernetz intakt zu halten. Noch aufwendiger gestaltet sich der Unterhalt der Abwassernetze. Der Verband der Schweizer Abwasser- und Gewässerschutzfachleute (VSA) schätzt die jährlichen Unterhaltskosten auf rund 400 Millionen Franken für die Abwasserreinigungsanlagen (ARA) und etwa 925 Millionen Franken für die Kanalisationsnetze. Insgesamt sind das über 1,3 Milliarden Franken pro Jahr. Genaue Zahlen, die auf tatsächlichen Investitionen basieren, werden nächstes Jahr vorliegen.
Die geschätzten Summen sind das eine, ihre Beschaffung das andere Problem. Denn früher oder später müssen Gemeinden ihre Gebührenstruktur anpassen, um die anstehenden Investitionen bewältigen zu können. Doch anders als Benzin- oder Milchpreise sind die Kosten für die Infrastruktur nur wenigen bekannt. Gerade Mieter, die ihre Nebenkosten pauschal bezahlen, haben nur selten eine Ahnung von der tatsächlichen Höhe der Gebühren. Dieses fehlende Wissen führt dazu, dass praktisch jede Gebührenerhöhung auf Widerstand stösst – selbst wenn sie moderat und gerechtfertigt ist. In einer Zeit, die steuerliche «Entlastungen» fordert und die «Abgabenlast» reduzieren will, stossen höhere Abgaben auf wenig Gegenliebe.

Grund- oder Mengengebühr?
Es ist jedoch nicht nur das politische Klima, das Gebührenerhöhungen zu einem heiklen Unterfangen macht. Ein Teil des Problems ist durchaus hausgemacht. Denn viele Versorgungsunternehmen haben es versäumt, ihre Gebührenstruktur rechtzeitig anzupassen. Sie basieren die Gebühr immer noch auf der bezogenen Menge, obwohl der Löwenanteil der Kosten für die Infrastruktur anfällt. Denn ob jemand nun 20 oder 200 Kubikmeter Wasser bezieht: Die Kosten für den Betrieb von Reservoirs, Pumpwerken und Leitungsnetzen sowie für das Personal bleiben praktisch dieselben. Mehr Erfolg würde eine Abrechnung nach dem Modell der ungeliebten Billag versprechen: Diese zieht die Gebühr für den Radio- oder Fernsehempfang ein, ohne auf die tatsächliche Nutzung zu achten. Wie oft und wie lange jemand fernsieht, ist für die Höhe der Abgabe völlig unerheblich. Was kostet, ist das Fernsehsignal, nicht die bezogene «Menge» von Fernsehstunden.
Die Wasserversorger finden sich nun in der ungemütlichen Lage, ihren Kunden Unterschied zwischen Fixkosten und Mengenpreis zu erklären. Deshalb ist die Versuchung gross, vorerst alles beim alten zu belassen und nicht an die Gebührenordnung zu rühren. Diese Strategie wird durch die Langlebigkeit der Trinkwasser-Infrastruktur begünstigt. Doch «die Arbeiten, die man heute aufschiebt, muss die nächste Generation bezahlen», sagt Paul Sicher, Leiter Kommunikation beim SVGW. Nur mit kontinuierlichen Investitionen lasse sich verhindern, dass für die nächste Generation eine «Gebührenbombe» gelegt werde. Deshalb hat der SVGW eine Empfehlung zur Finanzierung der Wasserversorgung erarbeitet.

Mangelndes Bewusstsein
Etwas anders ist die Lage beim Abwasser. Die ARA sind sichtbare Anlagen, ihr Beitrag zur Siedlungsentwässerung ist klar. So stossen Kredite für Ausbauten oder Sanierungen praktisch nur auf Zustimmung. Beim Kanalnetz sieht es anders aus. Wohl haben die meisten Gemeinden in den letzten Jahren einen Generellen Entwässerungsplan (GEP) aufgestellt. Wie konsequent dieser umgesetzt wird, ist dagegen eine andere Frage. Denn im Gegensatz zum Trinkwasser, das emotional besetzt ist und immer wieder grosse Aufmerksamkeit geniesst, steht die Entwässerung meist am Ende der kommunalen Prioritätenliste. «Die Kanalisation ist im Boden versteckt und wird von Bürgern und Politikern als fertiges Bauwerk wahrgenommen», sagt Martin Würsten, Präsident des VSA. Dieses fehlende Bewusstsein für das Kanalnetz ist nicht das einzige Problem. Martin Würsten bemängelt auch, dass viele Kantone ihre Aufsichtspflicht bei der Kanalisation nicht so gewissenhaft wahrnehmen wie bei den ARA: «Häufig besteht kaum Transparenz über den Zustand des Netzes. Es gibt keine Leistungsvorgaben, klare Regel- und Gesetzverstösse werden nur in Ausnahmefällen geahndet.»
Trotz dieser Bedenken stellt sich die Tarifsituation etwas besser dar als beim Trinkwasser. Im Allgemeinen sei die Höhe der Abwassergebühren angemessen, sagt Würsten. Er sieht jedoch mit Sorge, dass viele Gemeinden von den Erträgen der Vergangenheit zehren: «Sehr viele Abwasserunternehmen besitzen beträchtliche stille Reserven und haben ihre Gebühren deshalb zu tief angesetzt. In den nächsten Jahrzehnten werden diese Reserven aber aufgebraucht, was die Gebühren deutlich ansteigen lassen wird.»
Damit der Unterhalt langfristig gesichert und die Gebührenerhöhung realisiert werden kann, müssten die Versorgungsunternehmen ihre Kunden vermehrt ansprechen und direkt informieren. Doch während viele grössere Werke schon lange aktiv informieren, sind kleinere Versorger mit dem Thema oftmals überfordert. «Die Kommunikation ist beim Trinkwasser matchentscheidend, gehört aber nicht zum Kerngeschäft», sagt Paul Sicher. Die Branche müsse erst noch lernen, ihre Anliegen klarzumachen. Auch beim Thema Abwasser könnte etwas mehr Information nicht schaden, meint Martin Würsten: «Es ist zentral, dass die zukünftigen Ersatzinvestitionen langfristig ausgewiesen werden.» Wenn die notwendigen Investitionen klar kommuniziert würden, seien auch Gebührenanpassungen besser zu verstehen.

Finanzierung
Eine aktive und transparente Kommunikation ist auch wichtig, weil die Gebühren nahezu die einzige Einnahmequelle der Versorgungsunternehmen sind. Um die Trink- und Abwasserversorgung zu finanzieren, gibt es neben den Gebühren praktisch keine Alternativen. Zusätzliche Fördergelder können Trink- und Abwasserbetriebe höchstens beim Projekt «Energie Schweiz für Infrastrukturanlagen» beantragen. Allerdings gewährt dieses nur Zuschüsse für Massnahmen, welche die Energieeffizienz steigern, etwa durch den Einsatz moderner Trinkwasserpumpen oder durch die Abwärmegewinnung aus dem Abwasser.
Auch die Zeit der zinslosen Darlehen aus Steuergeldern könnte sich dem Ende zuneigen. Schon 2008 hat der Preisüberwacher bemängelt, dass viele gemeindeeigene Abwasserbetriebe faktisch über kein Eigenkapital verfügen. Denn die zinsfreien Kapitalien gelten aus Buchhaltersicht als Fremdkapital. Wenn die Rechnungslegungsstandards verschärft werden und das Kapital zu marktüblichen Ansätzen verbucht werden muss, könnte mancher Betrieb ein böses Erwachen erleben – und müsste seinen Kunden spätestens jetzt erklären, weshalb die Abwassergebühren auf einmal markant steigen.

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