Quartier Tiergarten in Zürich: Sanierung in bewohntem Zustand
Im Stadtzürcher Quartier Tiergarten herrscht unter den Bewohnern Unsicherheit und Dankbarkeit. Der praktisch in sich geschlossene Stadtteil wird saniert. Und das in bewohntem Zustand, was leider nur selten passiert. Denn trotz der Unannehmlichkeiten für die Mieter ist diese Art des Umbaus vorteilhaft. Ein Glück für alteingesessene Stadtzürcher.

Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Com_FC24-8003-0097
Die Tiergarten-Siedlung im Bau 1989. Schon damals konnten einzelne Parteien einziehen.
Wer schon einmal durch den Tiergarten lief, kennt es: Das Quartier ist verwinkelt, einzelne Häuser schwer auffindbar. Viele Nicht-Bewohner haben sich auf dem weitläufigen, von übermannshohen Hecken durchzogenen Gelände schon verirrt. Das erlaubt es den «Tiergärtlern», unter sich zu bleiben. Die meisten wohnen schon Jahrzehnte in der Überbauung. Die Kontakte in der Nachbarschaft sind gut und freundlich. Dank der vielen Grünflächen gibt es im Sommer öfter Partys auf dem gemeinsamen Grillplatz und anderen Orten im Quartier.
In Gemeinschaftsräumen findet vom Kinderflohmarkt
bis zu Kinovorstellungen alles Mögliche statt. Die Kleinen können sich Draussen
austoben, ohne dass die Eltern Angst vor Autos oder anderen Gefahren haben
müssen. Dasselbe gilt für Tierhalter: Katzen dürfen problemlos nach draussen
und für Hundehalter reicht schon ein Gang durchs Quartier, um dem Vierbeiner
ausreichend Auslauf zu verschaffen. Sogar die umliegenden Strassen sind nur
spärlich befahren. Vom Stadt-Lärm kaum etwas zu hören. Der Tiergarten ist gut
an die öffentlichen Verkehrsmittel angeschlossen, viele Einkaufsmöglichkeiten
liegen in der Nähe. Ein Paradies für die 466 Mietparteien.

Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Com_FC24-8009-0103
Die Siedlung Tiergarten während des Baus 1990. Bereits damals konnten erste Parteien einziehen.

Quelle: Simone Mathieu
Ein Schild weist darauf hin, dass das Areal nur Bewohnern zur Verfügung steht.
Leerkündigung kam nicht in Frage
Doch nun fühlt sich diese Gemeinschaft bedroht. Eine
Sanierung aller Wohnungen wurde angekündigt. Ab Sommer 2025 sollen etappenweise
Küchen, Nasszellen und Fenster aller Mietwohnungen umgebaut werden. Die
Bewohner können während der rund einen Monat pro Etappe dauernden Arbeiten in
ihrer Wohnung bleiben. Die Tiergarten-Besitzerin Plazza AG hat nicht, wie sonst
üblich, allen gekündigt, um die Sanierung schneller über die Bühne zu bringen.
Plazza erklärt gegenüber dem Baublatt: «Eine Sanierung im bewohnten Zustand
bedeutet zwar für alle Parteien einen erheblichen Mehraufwand, organisatorisch,
zeitlich und finanziell. Doch wir wollten die nachhaltigste Lösung für die
Bewohnenden umsetzen. Viele sind schon so lange hier – eine Leerkündigung wäre
ein massiver Einschnitt für alle Beteiligten.»
Tatsächlich stehen viele der vom Baublatt angesprochenen
Tiergarten-Mieter der bewohnten Sanierung positiv gegenüber. Alle haben den
Fall der «Sugus-Häuser» beim Zürcher Hauptbahnhof in Erinnerung, bei dem ein
Drittel der Häuser mit lediglich drei Monaten Frist für die Mieter
leergekündigt wurde. Ein Hauch von Unsicherheit ist trotzdem auch im Tiergarten
zu spüren: «Wir wohnen seit 12 Jahren hier», sagt Peter P*. Er und seine Frau
bezahlen für ihre Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung aktuell rund 3000 Franken. Für eine
Bleibe in der Stadt Zürich mit den Vorzügen der Lage des Tierparks ein
vergleichsweise annehmbarer Preis, dessen ist sich Peter P. bewusst: «Der
Unterschied zwischen dem Mietzins, den langjährige Tiergarten-Bewohner
bezahlen, und dessen, was man in dieser Gegend verlangen könnte, ist gross.» Er
vermutet denn auch, dass es der Plazza AG vor allem ums Geld geht. «Zürich ist
das gelobte Land für Immobilienbesitzer. Für die Mieter heisst das ‹friss oder
stirb›», meint er zynisch.
Einige Mieter wie Peter P. halten eine Sanierung für
überflüssig: «Bei uns und in allen Wohnungen, die ich im Tiergarten gesehen
habe, sind Küche und Nasszellen tiptop.» Das sagt auch Svenja C.*: «Ich
verstehe nicht, warum saniert wird. Die Wohnungen sind schön und modern. Ich
weiss gar nicht, was sie da machen wollen.»

Quelle: Simone Mathieu
Einer der Zugänge zum Tiergarten. Im Hintergrund ist die quartiereigene Kinderkrippe zu sehen.
Sanierung, Aufhübschung und Ökologie in Einem
Die Plazza AG sieht das anders: «Nach über 30 Jahren
braucht es eine grosszyklische Gesamtsanierung. Ziel ist dabei die nachhaltige
Ertüchtigung der Überbauung für weitere 30 Jahre ohne wesentlich vom
ortsüblichen Standard abzuweichen. Die Erneuerung von gemeinsamen Anlagen wie
Steigleitungen für Wasser, Abwasser und Lüftung haben Konsequenzen für
Küchen und Nasszellen, die deshalb im selben Zug saniert werden.» Weiter gibt
es neue Liftanlagen, die Beleuchtung in den Treppenhäusern sowie der Umgebung
werden besser, die Dächer mit Photovoltaikanlagen ausgerüstet. Die
Sanierung der Brüstungen der Balkone, ein Neuanstrich der Fassade und eine
ökologische Aufwertung der Umgebung sind ebenfalls geplant. Zudem gibt
es Veloabstellplätze – was viele Bewohner begrüssen. Zurzeit sieht man
überall Fahrräder an Wände und Brüstungen gelehnt.
Warum nicht gleichzeitig Böden und Wände in den anderen
Zimmern neu gemacht werden, verstehen viele nicht. Auf Wunsch ist dies
allerdings durchaus möglich, wie die Plazza AG erklärt: «Wir bieten
langjährigen Mietern an, sowohl Anstrich und / oder Parkett individuell und je
nach Zustand der Wohnung, instand stellen zu lassen. Dies sowohl vor als auch
nach der Sanierung. Im Übrigen wurden die Wohnungen bei jedem
Mieterwechsel instand gestellt. Das bedeutet, dass es heute bei vielen
Wohnungen gar nicht nötig ist, etwas an Wänden oder Parkett zu machen.» Zudem würde eine Komplettsanierung der ganzen Wohnung bedeuten, dass die
Bewohner all ihre Besitztümer ausräumen müssten. Nun sind lediglich Küche und Badezimmer betroffen. Die
nicht tangierten Zimmer werden mit Staubschleusen vor den Emissionen der
Renovierung geschützt.

Quelle: Simone Mathieu
Auf den vielen gemeinsamen Grünflächen wie dem grosszügigen Grillplatz treffen sich die Bewohner des Tiergartens oft zu gemeinsamen Events wie Apéros oder Parties.

Quelle: Simone Mathieu
Einer von vielen für alle Bewohner nutzbaren Plätzen in der Tiergarten-Siedlung.
Lieber der Baustelle entfliehen als ausharren
Während des rund vier bis sechswöchigen Umbaus pro Etappe
bietet die Plazza AG den Bewohnern einen gemeinsamen Duschbereich im Freien an.
«Individuell und auf Wunsch stellen wir zudem pro Wohnung eine Kochgelegenheit,
ein Camping-WC und einen freistehenden Kühlschrank zur Verfügung. Die
Waschküchen können weiter benutzt werden.» Obwohl die Sanierungen der Wohnungen
deswegen absichtlich in die warme Jahreszeit gelegt wurden, werden die
wenigsten Tiergarten-Bewohner von diesem Angebot Gebrauch machen. Alle Befragten
sagen einhellig, dass sie sich ein solches «Campingleben» nicht vorstellen
können. Lieber nehmen die Betroffenen Ferien oder suchen Unterschlupf bei
Bekannten und Verwandten. Die Mieter erhalten nach erfolgter Sanierung eine
angemessene Mietzinsrückvergütung für die Zeit, in der sie ihre Wohnung nicht
vollständig bewohnen konnten.
Was den Bewohnern am meisten Sorgen bereitet sind die
erwarteten Mietzinserhöhungen nach der Sanierung. Während Peter P. und seine
Frau wie auch andere Parteien bis zu 800 Franken plus in Kauf nehmen würden,
ist für Svenja C. die Grenze bereits jetzt erreicht: «Ich bin alleinerziehende
Mutter und bezahle aktuell für meine Viereinhalb-Zimmer-Wohnung inklusive
Garagenplatz 3000 Franken.» Sie habe früher einmal bei der Verwaltung
angefragt, ob eine Drei-Zimmer-Wohnung im Tiergarten frei sei. «Man sagte mir, ich
solle besser in der aktuellen Wohnung bleiben, da würde ich finanziell besser
fahren, als wenn ich als Neumieterin etwas Kleineres nehmen würde.»
Ein sorgenvoller Blick in die Zukunft
Offenbar sind sich dessen nicht alle bewusst: Man sieht in
den Eingängen zu den einzelnen Häusern Inserate, die einen Wohnungstausch
vorschlagen: Ein Paar mit Kind sucht zum Beispiel eine Drei- bis
Viereinhalb-Zimmer-Wohnung und bietet dafür seine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung
mit Garten an. Peter P. weiss: «Solche Tausch-Aktionen sind ein Trugschluss. Am
Ende bezahlt der, der seine Viereinhalb-Zimmer für Zweieinhalb-Zimmer abgegeben
hat, als Neumieter mehr, als vorher in der grösseren Wohnung.» Svenja C. wird
in keinem Fall bleiben können. Sie sieht sich bereits jetzt in Schlieren,
Dübendorf und Dietikon um. Der Horror, das Quartier nach über zwölf Jahren
verlassen und eine neue Bleibe suchen zu müssen, steht ihr ins Gesicht
geschrieben: «Überall, wo ich bezahlbare Wohnungen finde, stehen die Leute
Schlange um den Block, um sie anzuschauen.» Meist erhalte sie nicht einmal eine
Rückmeldung, obwohl sie alle Bedingungen erfülle, und unter anderem zu den
ersten gehöre, die die Unterkunft besichtige.
Auch Jans D.* aus England sagt, das gemeinsame Budget von
ihm und seiner Freundin würde keine monatlichen Mehrausgaben aushalten. Die
beiden wohnen seit zwei Jahren im Tiergarten und möchten die angenehme
Atmosphäre nicht missen. Seit 18. März gibt es Klarheit, mit welchen Mietzinserhöhungen die Bewohner des Tiergartens zu rechnen haben: Eine
Viereinhalb-Zimmer-Wohnung wird zwischen 800 und 900 Franken mehr kosten, eine
Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung 700 Franken und eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung rund
500 Franken plus.
Dies gilt selbstverständlich nur für langjährige
Tiergarten-Bewohner. Neumieter werden mit höheren Mieten rechnen müssen. Und
natürlich variiert auch der endgültige Zins für die jetzigen Bewohner – je
nachdem, wie lange sie schon im Tiergarten leben. So bezahlt die Familie von
Daniela D.* für ihre Viereinhalb-Zimmer-Wohnung, die bisher zwischen 2200 und
2500 Franken kostete – den genauen Betrag will sie nicht nennen – nach der
Sanierung etwas über 3000 Franken, die Familie wird in der Wohnung bleiben. Ebenso
Peter P., der bereits mit einer Erhöhung in dem Rahmen gerechnet hat.

Quelle: Simone Mathieu
In den Hauseingängen suchen Mieter nach tauschwilligen Nachbarn. Ein Trugschluss: Sobald sie eine neue Wohnung beziehen, gelten sie als Neumieter und bezahlen unter Umständen mehr als vorher.
Mieten im marktüblichen Bereich
Svenja C., Jans D. und auch andere müssen ihren geliebten
Wohnort verlassen. Trotz allem sind sie erleichtert, dass die neuen Mietpreise
erst ab Oktober 2026 gelten. Die Bewohner, die eine neue Unterkunft suchen
müssen, haben also eineinhalb Jahre Zeit, etwas Neues zu finden. Peter P. ist
sich sicher, dass ein Grossteil der Mietparteien ein Zins-Senkungsbegehren
einreichen wird. Laut Angaben des Mietzins-Berechnungstools des Mieterverbands
hätten Erhöhungen im Rahmen der neuen Tiergarten-Mieten mit der üblichen Praxis
der zuständigen Schlichtungsstelle ergeben, dass der Anstieg möglicherweise
tatsächlich zu hoch ausfällt. «Sie haben die Möglichkeit, diese anzufechten und
von der Schlichtungsbehörde überprüfen zu lassen», heisst es auf der Homepage.
Allerdings sind die Mietpreise vergleichbar mit anderen Quartieren in der
Gegend: Im Casa Binz kostet eine Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung 4000 Franken – allerdings
fährt die Üetlibergbahn nur wenige Meter an den Mehrfamilienhäusern vorbei –
und das alle zehn Minuten. In der Überbauung Austrasse werden für eine
Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung ebenfalls 4000 Franken verlangt. Trotz der ab
Oktober 2026 erhöhten Mieten – für die meisten Bewohner sind die Wohnungen im
Tiergarten immer noch die bessere Alternative, als in der Stadt Zürich einen
ähnlich attraktiven, bezahlbaren Wohnraum zu suchen.

Quelle: Simone Mathieu
An Spielplätzen für die Kinder mangelt es nicht in der Überbauung.
Studien geben Vorgehen Recht
Mit der Sanierung in bewohntem Zustand will die Plazza AG
unnötige Konfrontationen infolge einer Leerkündigung verhindern: «Das
vermeidet unnötige Auseinandersetzungen und deren ungewollte Folgen.» Laut
Studien bleiben bei bewohnten Sanierungen zwei Drittel der Mieter im Quartier.
Ein Vorzeigeprojekt dafür sind die Telli-Häuser in Aarau, deren Sanierung
ebenfalls in bewohntem Zustand stattfand. Von solchen Sanierungen profitieren
nicht nur die Bewohner, sondern durchaus auch die Besitzer der Häuser: Sie müssen
keine Inserate schalten und der Aufwand, neue, passende Mieter zu finden, fällt
weg.
Trotz der Umstände, Unsicherheiten und höheren Mietpreisen
ist ein Grossteil der Tiergarten-Bewohner der Plazza AG überaus dankbar: «Ich
wohne seit 1988 hier – seit es die Siedlung gibt», sagt Petra D.* Die ältere
Dame findet nur lobende Worte für die ungewohnte Situation: «Stellen sie sich
vor, wir alle müssten eine neue Bleibe suchen. Gerade für ältere Menschen wie
mich, und solche, die in der Stadt Zürich bleiben wollen, wäre das ein Ding der
Unmöglichkeit beim aktuellen Immobilienmarkt.» Zudem würden sie sehr gut
informiert – es gibt für die Sanierungsphase eine Smartphone-App, auf der
stetig Neuigkeiten kommuniziert werden.
Es wäre zu hoffen, dass sich andere Immobilienbesitzer an dieser Art der bewohnten Sanierung ein Vorbild nehmen. Und die Mieter vor dem Schreckgespenst bewahren, umziehen zu müssen und in der Stadt Zürich keine Bleibe mehr zu finden. Was sie zwingt, in einem Ort ausserhalb der Stadt zu wohnen, zu dem sie keinen Bezug haben und in welchem ihr Umfeld fehlt.
*Namen der Redaktion bekannt.
Die Siedlung Tiergarten hat einen eigenen Verein, der zum
Ziel hat, die Bewohner zu vernetzen. Unter dem folgenden Link können
interessierte Leserinnen und Leser mehr über den Verein und die Siedlung
erfahren: www.imtiergarten.ch