09:06 BAUPRAXIS

Quartier Tiergarten in Zürich: Sanierung in bewohntem Zustand

Geschrieben von: Simone Matthieu
Teaserbild-Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Com_FC24-8003-0097

Im Stadtzürcher Quartier Tiergarten herrscht unter den Bewohnern Unsicherheit und Dankbarkeit. Der praktisch in sich geschlossene Stadtteil wird saniert. Und das in bewohntem Zustand, was leider nur selten passiert. Denn trotz der Unannehmlichkeiten für die Mieter ist diese Art des Umbaus vorteilhaft. Ein Glück für alteingesessene Stadtzürcher.

Tiergarten Quartier 1992

Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Com_FC24-8003-0097

Die Tiergarten-Siedlung im Bau 1989. Schon damals konnten einzelne Parteien einziehen.

Wer schon einmal durch den Tiergarten lief, kennt es: Das Quartier ist verwinkelt, einzelne Häuser schwer auffindbar. Viele Nicht-Bewohner haben sich auf dem weitläufigen, von übermannshohen Hecken durchzogenen Gelände schon verirrt. Das erlaubt es den «Tiergärtlern», unter sich zu bleiben. Die meisten wohnen schon Jahrzehnte in der Überbauung. Die Kontakte in der Nachbarschaft sind gut und freundlich. Dank der vielen Grünflächen gibt es im Sommer öfter Partys auf dem gemeinsamen Grillplatz und anderen Orten im Quartier. 

In Gemeinschaftsräumen findet vom Kinderflohmarkt bis zu Kinovorstellungen alles Mögliche statt. Die Kleinen können sich Draussen austoben, ohne dass die Eltern Angst vor Autos oder anderen Gefahren haben müssen. Dasselbe gilt für Tierhalter: Katzen dürfen problemlos nach draussen und für Hundehalter reicht schon ein Gang durchs Quartier, um dem Vierbeiner ausreichend Auslauf zu verschaffen. Sogar die umliegenden Strassen sind nur spärlich befahren. Vom Stadt-Lärm kaum etwas zu hören. Der Tiergarten ist gut an die öffentlichen Verkehrsmittel angeschlossen, viele Einkaufsmöglichkeiten liegen in der Nähe. Ein Paradies für die 466 Mietparteien.

Siedlung Tiergarten 1990

Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Com_FC24-8009-0103

Die Siedlung Tiergarten während des Baus 1990. Bereits damals konnten erste Parteien einziehen.

Privat-Schild soll nicht-Bewohner fernhalten @simonematthieu

Quelle: Simone Mathieu

Ein Schild weist darauf hin, dass das Areal nur Bewohnern zur Verfügung steht.

Leerkündigung kam nicht in Frage

Doch nun fühlt sich diese Gemeinschaft bedroht. Eine Sanierung aller Wohnungen wurde angekündigt. Ab Sommer 2025 sollen etappenweise Küchen, Nasszellen und Fenster aller Mietwohnungen umgebaut werden. Die Bewohner können während der rund einen Monat pro Etappe dauernden Arbeiten in ihrer Wohnung bleiben. Die Tiergarten-Besitzerin Plazza AG hat nicht, wie sonst üblich, allen gekündigt, um die Sanierung schneller über die Bühne zu bringen. Plazza  erklärt gegenüber dem Baublatt: «Eine Sanierung im bewohnten Zustand bedeutet zwar für alle Parteien einen erheblichen Mehraufwand, organisatorisch, zeitlich und finanziell. Doch wir wollten die nachhaltigste Lösung für die Bewohnenden umsetzen. Viele sind schon so lange hier – eine Leerkündigung wäre ein massiver Einschnitt für alle Beteiligten.»

Tatsächlich stehen viele der vom Baublatt angesprochenen Tiergarten-Mieter der bewohnten Sanierung positiv gegenüber. Alle haben den Fall der «Sugus-Häuser» beim Zürcher Hauptbahnhof in Erinnerung, bei dem ein Drittel der Häuser mit lediglich drei Monaten Frist für die Mieter leergekündigt wurde. Ein Hauch von Unsicherheit ist trotzdem auch im Tiergarten zu spüren: «Wir wohnen seit 12 Jahren hier», sagt Peter P*. Er und seine Frau bezahlen für ihre Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung aktuell rund 3000 Franken. Für eine Bleibe in der Stadt Zürich mit den Vorzügen der Lage des Tierparks ein vergleichsweise annehmbarer Preis, dessen ist sich Peter P. bewusst: «Der Unterschied zwischen dem Mietzins, den langjährige Tiergarten-Bewohner bezahlen, und dessen, was man in dieser Gegend verlangen könnte, ist gross.» Er vermutet denn auch, dass es der Plazza AG vor allem ums Geld geht. «Zürich ist das gelobte Land für Immobilienbesitzer. Für die Mieter heisst das ‹friss oder stirb›», meint er zynisch.

Einige Mieter wie Peter P. halten eine Sanierung für überflüssig: «Bei uns und in allen Wohnungen, die ich im Tiergarten gesehen habe, sind Küche und Nasszellen tiptop.» Das sagt auch Svenja C.*: «Ich verstehe nicht, warum saniert wird. Die Wohnungen sind schön und modern. Ich weiss gar nicht, was sie da machen wollen.»

Eingang Tiergarten @simonematthieu

Quelle: Simone Mathieu

Einer der Zugänge zum Tiergarten. Im Hintergrund ist die quartiereigene Kinderkrippe zu sehen.

Sanierung, Aufhübschung und Ökologie in Einem 

Die Plazza AG sieht das anders: «Nach über 30 Jahren braucht es eine grosszyklische Gesamtsanierung. Ziel ist dabei die nachhaltige Ertüchtigung der Überbauung für weitere 30 Jahre ohne wesentlich vom ortsüblichen Standard abzuweichen. Die Erneuerung von gemeinsamen Anlagen wie Steigleitungen für Wasser, Abwasser und Lüftung haben Konsequenzen für Küchen und Nasszellen, die deshalb im selben Zug saniert werden.» Weiter gibt es neue Liftanlagen, die Beleuchtung in den Treppenhäusern sowie der Umgebung werden besser, die Dächer mit Photovoltaikanlagen ausgerüstet. Die Sanierung der Brüstungen der Balkone, ein Neuanstrich der Fassade und eine ökologische Aufwertung der Umgebung sind ebenfalls geplant. Zudem gibt es Veloabstellplätze – was viele Bewohner begrüssen. Zurzeit sieht man überall Fahrräder an Wände und Brüstungen gelehnt.

Warum nicht gleichzeitig Böden und Wände in den anderen Zimmern neu gemacht werden, verstehen viele nicht. Auf Wunsch ist dies allerdings durchaus möglich, wie die Plazza AG erklärt: «Wir bieten langjährigen Mietern an, sowohl Anstrich und/oder Parkett individuell und je nach Zustand der Wohnung, instand stellen zu lassen. Dies sowohl vor als auch nach der Sanierung. Im Übrigen wurden die Wohnungen bei jedem Mieterwechsel instand gestellt. Das bedeutet, dass es heute bei vielen Wohnungen gar nicht nötig ist, etwas an Wänden oder Parkett zu machen.» Zudem würde eine Komplettsanierung der ganzen Wohnung bedeuten, dass die Bewohner all ihre Besitztümer ausräumen müssten. Nun sind lediglich Küche und Badezimmer betroffen. Die nicht tangierten Zimmer werden mit Staubschleusen vor den Emissionen der Renovierung geschützt.

Gemeinsamer Grillplatz Tiergarten @simonematthieu

Quelle: Simone Mathieu

Auf den vielen gemeinsamen Grünflächen wie dem grosszügigen Grillplatz treffen sich die Bewohner des Tiergartens oft zu gemeinsamen Events wie Apéros oder Parties.

Offene Plätze für alle @simonematthieu

Quelle: Simone Mathieu

Einer von vielen für alle Bewohner nutzbaren Plätzen in der Tiergarten-Siedlung.

Lieber der Baustelle entfliehen als ausharren

Während des rund vier bis sechswöchigen Umbaus pro Etappe bietet die Plazza AG den Bewohnern einen gemeinsamen Duschbereich im Freien an. «Individuell und auf Wunsch stellen wir zudem pro Wohnung eine Kochgelegenheit, ein Camping-WC und einen freistehenden Kühlschrank zur Verfügung. Die Waschküchen können weiter benutzt werden.» Obwohl die Sanierungen der Wohnungen deswegen absichtlich in die warme Jahreszeit gelegt wurden, werden die wenigsten Tiergarten-Bewohner von diesem Angebot Gebrauch machen. Alle Befragten sagen einhellig, dass sie sich ein solches «Campingleben» nicht vorstellen können. Lieber nehmen die Betroffenen Ferien oder suchen Unterschlupf bei Bekannten und Verwandten. Die Mieter erhalten nach erfolgter Sanierung eine angemessene Mietzinsrückvergütung für die Zeit, in der sie ihre Wohnung nicht vollständig bewohnen konnten.

Was den Bewohnern am meisten Sorgen bereitet sind die erwarteten Mietzinserhöhungen nach der Sanierung. Während Peter P. und seine Frau wie auch andere Parteien bis zu 800 Franken plus in Kauf nehmen würden, ist für Svenja C. die Grenze bereits jetzt erreicht: «Ich bin alleinerziehende Mutter und bezahle aktuell für meine Viereinhalb-Zimmer-Wohnung inklusive Garagenplatz 3000 Franken.» Sie habe früher einmal bei der Verwaltung angefragt, ob eine Drei-Zimmer-Wohnung im Tiergarten frei sei. «Man sagte mir, ich solle besser in der aktuellen Wohnung bleiben, da würde ich finanziell besser fahren, als wenn ich als Neumieterin etwas Kleineres nehmen würde.»

Ein sorgenvoller Blick in die Zukunft

Offenbar sind sich dessen nicht alle bewusst: Man sieht in den Eingängen zu den einzelnen Häusern Inserate, die einen Wohnungstausch vorschlagen: Ein Paar mit Kind sucht zum Beispiel eine Drei- bis Viereinhalb-Zimmer-Wohnung und bietet dafür seine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung mit Garten an. Peter P. weiss: «Solche Tausch-Aktionen sind ein Trugschluss. Am Ende bezahlt der, der seine Viereinhalb-Zimmer für Zweieinhalb-Zimmer abgegeben hat, als Neumieter mehr, als vorher in der grösseren Wohnung.» Svenja C. wird in keinem Fall bleiben können. Sie sieht sich bereits jetzt in Schlieren, Dübendorf und Dietikon um. Der Horror, das Quartier nach über zwölf Jahren verlassen und eine neue Bleibe suchen zu müssen, steht ihr ins Gesicht geschrieben: «Überall, wo ich bezahlbare Wohnungen finde, stehen die Leute Schlange um den Block, um sie anzuschauen.» Meist erhalte sie nicht einmal eine Rückmeldung, obwohl sie alle Bedingungen erfülle, und unter anderem zu den ersten gehöre, die die Unterkunft besichtige.

Auch Jans D.* aus England sagt, das gemeinsame Budget von ihm und seiner Freundin würde keine monatlichen Mehrausgaben aushalten. Die beiden wohnen seit zwei Jahren im Tiergarten und möchten die angenehme Atmosphäre nicht missen. Seit 18.März gibt es Klarheit, mit welchen Mietzinserhöhungen die Bewohner des Tiergartens zu rechnen haben: Eine Viereinhalb-Zimmer-Wohnung wird zwischen 800 und 900 Franken mehr kosten, eine Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung 700 Franken und eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung rund 500 Franken plus.

Dies gilt selbstverständlich nur für langjährige Tiergarten-Bewohner. Neumieter werden mit höheren Mieten rechnen müssen. Und natürlich variiert auch der endgültige Zins für die jetzigen Bewohner – je nachdem, wie lange sie schon im Tiergarten leben. So bezahlt die Familie von Daniela D.* für ihre Viereinhalb-Zimmer-Wohnung, die bisher zwischen 2200 und 2500 Franken kostete – den genauen Betrag will sie nicht nennen – nach der Sanierung etwas über 3000 Franken, die Familie wird in der Wohnung bleiben. Ebenso Peter P., der bereits mit einer Erhöhung in dem Rahmen gerechnet hat.

Wohnungs-Tauschangebote @simonematthieu

Quelle: Simone Mathieu

In den Hauseingängen suchen Mieter nach tauschwilligen Nachbarn. Ein Trugschluss: Sobald sie eine neue Wohnung beziehen, gelten sie als Neumieter und bezahlen unter Umständen mehr als vorher.

Mieten im marktüblichen Bereich

Svenja C., Jans D. und auch andere müssen ihren geliebten Wohnort verlassen. Trotz allem sind sie erleichtert, dass die neuen Mietpreise erst ab Oktober 2026 gelten. Die Bewohner, die eine neue Unterkunft suchen müssen, haben also eineinhalb Jahre Zeit, etwas Neues zu finden. Peter P. ist sich sicher, dass ein Grossteil der Mietparteien ein Zins-Senkungsbegehren einreichen wird. Laut Angaben des Mietzins-Berechnungstools des Mieterverbands hätten Erhöhungen im Rahmen der neuen Tiergarten-Mieten mit der üblichen Praxis der zuständigen Schlichtungsstelle ergeben, dass der Anstieg möglicherweise tatsächlich zu hoch ausfällt. «Sie haben die Möglichkeit, diese anzufechten und von der Schlichtungsbehörde überprüfen zu lassen», heisst es auf der Homepage. Allerdings sind die Mietpreise vergleichbar mit anderen Quartieren in der Gegend: Im Casa Binz kostet eine Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung 4000 Franken – ­allerdings fährt die Üetlibergbahn nur wenige Meter an den Mehrfamilienhäusern vorbei – und das alle zehn Minuten. In der Überbauung Austrasse werden für eine Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung ebenfalls 4000 Franken verlangt. Trotz der ab Oktober 2026 erhöhten Mieten – für die meisten Bewohner sind die Wohnungen im Tiergarten immer noch die bessere Alternative, als in der Stadt Zürich einen ähnlich attraktiven, bezahlbaren Wohnraum zu suchen. 

Einer von vielen Spielplätzen im Tiergarten @simonematthieu

Quelle: Simone Mathieu

An Spielplätzen für die Kinder mangelt es nicht in der Überbauung.

Studien geben Vorgehen Recht

Mit der Sanierung in bewohntem Zustand will die Plazza AG unnötige Konfrontationen infolge einer Leerkündigung verhindern: «Das vermeidet unnötige Auseinandersetzungen und deren ungewollte Folgen.» Laut Studien bleiben bei bewohnten Sanierungen zwei Drittel der Mieter im Quartier. Ein Vorzeigeprojekt dafür sind die Telli-Häuser in Aarau, deren Sanierung ebenfalls in bewohntem Zustand stattfand. Von solchen Sanierungen profitieren nicht nur die Bewohner, sondern durchaus auch die Besitzer der Häuser: Sie müssen keine Inserate schalten und der Aufwand, neue, passende Mieter zu finden, fällt weg.

Trotz der Umstände, Unsicherheiten und höheren Mietpreisen ist ein Grossteil der Tiergarten-Bewohner der Plazza AG überaus dankbar: «Ich wohne seit 1988 hier – seit es die Siedlung gibt», sagt Petra D.* Die ältere Dame findet nur lobende Worte für die ungewohnte Situation: «Stellen sie sich vor, wir alle müssten eine neue Bleibe suchen. Gerade für ältere Menschen wie mich, und solche, die in der Stadt Zürich bleiben wollen, wäre das ein Ding der Unmöglichkeit beim aktuellen Immobilienmarkt.» Zudem würden sie sehr gut informiert – es gibt für die Sanierungsphase eine Smartphone-App, auf der stetig Neuigkeiten kommuniziert werden.

Es wäre zu hoffen, dass sich andere Immobilienbesitzer an dieser Art der bewohnten Sanierung ein Vorbild nehmen. Und die Mieter vor dem Schreckgespenst bewahren, umziehen zu müssen und in der Stadt Zürich keine Bleibe mehr zu finden. Was sie zwingt, in einem Ort ausserhalb der Stadt zu wohnen, zu dem sie keinen Bezug haben und in welchem ihr Umfeld fehlt.  

*Namen der Redaktion bekannt.

Die Siedlung Tiergarten hat einen eigenen Verein, der zum Ziel hat, die Bewohner zu vernetzen. Unter dem folgenden Link können interessierte Leserinnen und Leser mehr über den Verein und die Siedlung erfahren: www.imtiergarten.ch

Auch interessant

Anzeige

Firmenprofile

Post Baulogistik AG

Finden Sie über die neuen Firmenprofile bequem und unkompliziert Kontakte zu Handwerkern und Herstellern.

Reports

construction-report

Kostenfreie Reports zur Bauindustrie

Jetzt noch mehr inhaltsstarke Quartalsanalysen, kostenlos für Baublatt Abonnent*innen. Neben dem Report Baublatt Project Categories (ehem. Baublatt Analyse), bieten wir ab sofort zwei weitere brandneue Reports als Zusatz. Erfahren Sie hier was Baublatt Top Players und Baublatt Regional Projects zu bieten haben – wie gewohnt digital, prägnant und graphisch auf den Punkt gebracht.

Dossier

Spannendes aus Print und Online für Abonnenten
© James Sullivan, unsplash

Spannendes aus Print und Online für Abonnenten

Dieses Dossier enthält die Artikel aus den letzten Baublatt-Ausgaben sowie Geschichten, die exklusiv auf baublatt.ch erscheinen. Dabei geht es unter anderem um die Baukonjunktur, neue Bauverfahren, Erkenntnisse aus der Forschung, aktuelle Bauprojekte oder um besonders interessante Baustellen.

Bauaufträge

Alle Bauaufträge

Newsletter abonnieren

newsico

Mit dem Baublatt-Newsletter erhalten Sie regelmässig relevante, unabhängige News zu aktuellen Themen der Baubranche.