09:08 BAUPRAXIS

Strohballenhaus-Siedlung in Nänikon: Ein Dorf aus Stroh und Holz

Teaserbild-Quelle: Damian Poffet

Strohballen dämmen gleich gut wie Steinwolle. Das macht sich ein Bündner Architekturbüro bei einem Projekt in Nänikon ZH zunutze. Es realisiert die schweizweit erste Siedlung aus vorgefertigten Holzmodulen, die mit gepresstem Stroh gefüllt sind.

Module für die Strohballenhaus-Siedlung in Nänikon

Quelle: Damian Poffet

Die 68 Module für die Strohballenhaus-Siedlung in Nänikon ZH fertigt die Zaugg AG Rohrbach an ihrem Standort im Berner Oberaargau vor.

Manchmal ist Lowtech zukunftsträchtiger als Hightech. Davon sind die beiden Trunser Architekten Werner und Paul Schmidt nicht nur überzeugt, sie handeln auch entsprechend. Vater und Sohn Schmidt haben schon diverse Gebäude aus Strohballen realisiert – und sich damit erfolgreich in einem Nischensegment etabliert. «Für unser kleines Bündner Atelier sind Strohbauten eine Möglichkeit, um auch im Unterland aktiv zu werden und überregional arbeiten zu können», betont Paul Schmidt.

Die Anfrage für die Planung der ersten Strohballenhaus-Siedlung der Schweiz kam denn auch aus dem zürcherischen Nänikon. Auf dem ehemaligen Bombasei-Fabrikareal mitten im Dorf wollte die Bauherrin eine in jeder Beziehung nachhaltige Überbauung realisieren. «Energiesparend sollte nicht nur die Produktion der verwendeten Baustoffe sein, sondern auch der spätere Betrieb der Liegenschaften», erinnert sich Paul Schmidt. «Und beim Rückbau der Siedlung soll einmal kein Sondermüll auf der Deponie landen.» Der Bauherrin schwebte zudem vor, das Wohlbefinden der künftigen Bewohner durch den konsequenten Einsatz natürlicher Baumaterialien wie Stroh, Holz, Lehm und Kalk zu erhöhen.

Vorteilhafter natürlicher Baustoff

Für die Siedlung «Im Vogelsang» galt es zuerst, die Strohbauform zu definieren. Einfamilien- oder Reihenhäuser hatte das Atelier Schmidt schon in lasttragender Bauweise realisiert. Bei dieser Konstruktionsart übernehmen gepresste Strohballen nicht nur die wärmedämmende Funktion, sondern auch die statische: Das Gewicht des Daches wird über sie abgeleitet. Der Wandaufbau gleicht einem Einsteinmauerwerk, bei dem jedoch gepresste Strohballen die Backsteine ersetzen. «Für ein Mehrfamilienhaus gelten aber erhöhte baurechtliche Anforderungen», erklärt Paul Schmidt. «Bei lasttragender Bauweise hätten wir zusätzliche Nachweise erbringen müssen. Diese Zeit hatten wir nicht.»

Die Wahl fiel deshalb frühzeitig auf einen Holzbau mit Stroh als natürlicher Wärmedämmung. Die tragende Struktur bilden dabei vorgefertigte Holzmodule, die mit Strohballen gefüllt sind. «Stroh hat im Gegensatz zu anderen Baustoffen keine Lobby», bedauert Werner Schmidt. «Und dies trotz all seiner ökologischen und energetischen Vorteile.» Tatsächlich ist das günstige Stroh aufgrund der tiefen Wärmeleitfähigkeit ein idealer Dämmstoff: Dessen Lambda-Wert liegt mit 0,045 bis 0,06W/mK nur unwesentlich höher als derjenige weitaus teurerer Steinwolle (0,040W/mK). «Fürs gleiche Geld erhält man so ein besser gedämmtes Haus», sagt Schmidt. Das atmungsaktive Stroh trage zudem zum guten Wohnraumklima bei.

Im Vergleich zu konventionellen Baustoffen, die teils in sehr aufwendigen Verfahren produziert werden, steckt in Strohballen aber auch viel weniger graue Energie. So wird die Energiemenge bezeichnet, die für Herstellung, Transport, Lagerung, Verkauf und Entsorgung eines Produkts benötigt wird. Der entsprechende Energieaufwand ist bei lokal produzierten Strohballen sehr tief. «Stroh fällt beim Getreideanbau sowieso an», erläutert Paul Schmidt. «Indem wir es als Baustoff nutzen, führen wir ein landwirtschaftliches Nebenprodukt einer sinnvollen Verwendung zu.»

Aufbau der Strohballen-Siedlung in Nänikon

Quelle: zvg

Monteure arbeiten am Dorf im Dorf: Mitten in der Zürcher Landgemeinde entsteht aus den vorgefertigten Holzmodulen, die mit Strohballen gefüllt sind, eine kompakte nachhaltige Siedlung.

Verdichtete dörfliche Gemeinschaft

Die Umgebung des Bauplatzes ist ländlich geprägt. Deswegen lag es für das Trunser Architekturbüro auf der Hand, die dörfliche Struktur Nänikons in der Siedlung «Im Vogelsang» in kompakter Bauweise weiterzuführen, sozusagen als Dorf im Dorf. «Auf engem Raum zusammenwohnen, aber mit eigenem Hauseingang – das heisst ländlich leben für uns Bündner», sagt Paul Schmidt schmunzelnd. Jede Wohnung verfüge nach vorne über einen privaten Teil mit Aussicht, nach hinten gegen den Innenhof aber auch über einen öffentlichen Teil. «Dort trifft man sich, dort entsteht Gemeinschaft.»

Die Strohballenhaus-Siedlung gliedert sich in drei Gebäude mit jeweils vier Geschossen samt Unterkellerung. Verbindendes Element ist ein hölzernes Sonnendeck im zweiten Obergeschoss. Die Scheddächer sind eine Anlehnung an die frühere Fabrik, aber nicht nur. Denn die nach Süden ausgerichtete Dachfläche lässt sich wegen der Neigung von 45 Grad auch vielversprechend mit Photovoltaik-Panels bestücken. Im Rahmen eines Zusammenschlusses für den Eigenverbrauch wird der so gewonnene Solarstrom direkt vor Ort in der Siedlung genutzt.

Von den insgesamt 28 Wohnungen werden elf Wohnungen von der Bauherrin vermietet, die restlichen elf Wohnungen und sechs Reihenhäuser fanden innert Kürze ihre Eigentümer. «Das spricht sicher erst einmal für den Standort», sagt Werner Schmidt. «Aber viele der Käufer waren gemäss eigener Aussage auf der Suche nach einem Zuhause aus natürlichen Baumaterialien.»

Bauführer Christoph Ryser von der Zaugg AG Rohrbach und Werner und Paul Schmidt vom Trunser Atelier Schmidt.

Quelle: Gabriel Diezi

Beim Lokaltermin Ende Februar auf der Baustelle in Nänikon ZH (von links): Bauführer Christoph Ryser von der Zaugg AG Rohrbach und Werner und Paul Schmidt vom Trunser Atelier Schmidt.

Ein Holzbau mit Strohfüllung

Und tatsächlich hat das nachhaltige Projekt in Nänikon diesbezüglich einiges zu bieten. Im Innenausbau findet sich nebst viel Holz ein Lehmverputz. Die bis zu 90 Zentimeter dicken Strohwände werden aussen mittels Kalkputz vor eindringender Feuchtigkeit geschützt und gleichzeitig feuerresistenter gemacht. Fertig verputzt erfüllen diese nämlich die Feuerwiderstandsklasse R 60, halten also im Brandfall 60 Minuten stand – gleich lang wie eine 14 Zentimeter dicke Betonwand. Ganz ohne konventionellen Baustoffe geht es aber auch bei der Überbauung «Im Vogelsang» nicht: Die schützende Wanne im Kellerbereich sowie die beiden Treppenhauskerne zur Erschliessung wurden vom Baumeister betoniert.

Davon einmal abgesehen haben im Vogelsang die Holzbauer das Sagen. «Die ganze Siedlung besteht aus 68 mit Strohballen gefüllten Holzbaumodulen, die wir in unserem Werk in Rohrbach bei Huttwil im Berner Oberaargau vorfertigen», erläutert Christoph Ryser, Bauführer bei der Zaugg AG Rohrbach. Aus Brettsperrholz-Elementen erstellen seine Kollegen zuerst die Rahmen, die sie anschliessend mit der Strohdämmung befüllen. Insgesamt werden etwa 420 Tonnen Stroh verbaut, das entspricht dem Material aus 105 Hektaren Getreideanbau.

«Eine Lohnunternehmung aus Ittigen beliefert uns mit den gepressten und gebundenen Strohballen», sagt Ryser. Knifflig sei zu Beginn der finale Beschnitt der Strohfüllung im Rahmen gewesen. Dieser dürfe nicht zu perfekt aussehen, müsse aber dennoch eine saubere Fläche ergeben. «Da war etwas Kreativität gefragt. Doch jetzt ‹hemmer's duss›, die ganze Produktion läuft tadellos!» Aber auch für die dabei anfallenden Strohresten hätten sie eine kreative Lösung gefunden, erzählt Ryser. Ein Landwirt, der bei der Zaugg AG Rohrbach arbeitet, kann diese jeweils zu Hause in seinem eigenen Bauernbetrieb sinnvoll verwerten.

Modulproduktion mit gepresstem Stroh im Holzrahmen

Quelle: Damian Poffet

Kreative Lösung: So wird bei der Modulproduktion das gepresste Stroh im Holzrahmen beschnitten.

Soweit als möglich vorgefertigt

Den strohbefüllten Holzmodulen steht anschliessend ein kurzer Transfer nach Langenthal bevor. In einer zugemieteten Halle arbeiten Installateure, Schreiner und Gipser an diesen weiter. «Alle vorfabrizierten Module werden bereits vor dem Transport nach Nänikon verputzt. Draussen auf der Baustelle hätte dies nicht funktioniert, auch nicht in einem milden Winter wie dem letzten», weiss Ryser. Nachdem die Unterlagsböden eingebracht, die Treppen montiert und alle Fertigstellungsarbeiten vorgenommen sind, wird das einzelne Modul in schützenden Plastik gehüllt und zum Paket verschweisst.

Am nächsten frühen Morgen kann die Reise in Richtung Greifensee starten. Das drei Meter breite Gefährt muss schliesslich vor 6.30Uhr den Gubristtunnel passiert haben, so will es die Verkehrspolizei. «Pro Fahrt kann unser Chauffeur nur zwei Module transportieren – mehr geht wegen der Länge des Lastwagens nicht», sagt Ryser. Für die in der ersten Etappe verbauten 24 Module waren folglich ein Dutzend Tagesfuhren notwendig.

Holzbaumodul am Kran

Quelle: zvg

Mit dem Kran wird ein Holzbaumodule nach dem anderen zielgenau versetzt und mit den anderen verschraubt.

Wetterturbulenzen beim Aufrichten

Beim Lokaltermin Ende Februar steht in Nänikon bereits das erste von drei Gebäuden. Nach dem Versetzen mit dem Kran haben die Zaugg-Monteure die einzelnen Holzbaumodule sauber miteinander verschraubt. An den richtigen Stellen montierte Schalllager garantieren den Schallschutz, der einem unbeschwerten Zusammenwohnen zuträglich ist. Gerade einmal vier Wochen habe das Aufrichten der vorgefertigten Holzmodule gedauert – trotz mittlerem Wetterpech, wie Ryser erzählt: «Bei den wiederholt auftretenden Sturmwinden war nicht mehr ans ‹chränle› zu denken – keine Chance!» Nicht zu unterschätzen sei im Holzbau auch der Regen, betont der Bauführer. Doch dank Notdächern schafften es seine Leute, die Baustelle innert dreissig Minuten abzudecken.

Rysers Crew vor Ort besteht aktuell aus sieben Monteuren, einem Kranführer und zwei Schreinern – also insgesamt zehn Arbeitern. In all den Wochen haben aber bis zu einem Fünftel der gut 130 Zaugg-Angestellten für das Bombasei-Projekt gearbeitet. Mit einem Auftragsvolumen von rund sechs Millionen Franken ist es für das Berner KMU ein Grossauftrag. «Klar ist Nänikon für unsere Leute weit weg von daheim», räumt Ryser ein. «Aber sie dürfen ja auch nicht jeden Tag mithelfen, ein so tolles Objekt zu realisieren.»

Schlafzimmer in der Strohballen-Siedlung in Nänikon

Quelle: Gabriel Diezi

Träumen unter dem Scheddach: Bald schon ist der Ausbau dieses Schlafzimmers abgeschlossen.

Beteiligte Firmen

  • Architekt:Atelier Schmidt GmbH, Trun
  • Holzbauingenieur:Josef Kolb AG, Romanshorn
  • Betoningenieur:Brühwiler AG, Gossau
  • HLKSE-Planung:Klinova AG, Zürich
  • Holzbau:Zaugg AG Rohrbach, Rohrbach
  • Baumeister:Bereuter Bau AG, Volketswil
  • Bedachung:Hüppi Dachbau AG, Goldingen
  • Sanitär:Marzolo + Partner AG, Uster
  • Elektro:Oberholzer AG, Uster
  • Heizung/Lüftung:Lehmann & Co. AG, Volketswil

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