Software-Tool für Nachhaltigkeit: «Das kann ich», statt «das will ich»
Kreislaufwirtschaft und Nachhaltigkeit werden im Bausektor immer wichtiger. Ein Software-Tool ermöglicht es, Emissionen eines Gebäudes für seinen ganzen Lebenszyklus zu kalkulieren: Einberechnet werden Herstellungs- und Betriebsenergie sowie die Energie für den Rückbau.
«EcoTool»
hat seinen Sitz in Basel, der Eingang liegt im Hinterhof eines über 700 Jahre
alten Gebäudes. Womit wir schon beim Thema wären: «Ein solch altes Haus hat
eine gute Ökobilanz», sagt Oliver Kirschbaum, Co-Gründer und Geschäftsleiter
des Online-Werkzeugs, das praktisch für jeden Teil eines geplanten Neu- oder
Umbaus die Nachhaltigkeit ausrechnet und aufzeigt, wie diese verbessert werden
kann. Kirschbaum und sein Kollege Marc Anton Dahmen sind schon bei der
Einrichtung ihres Büros keinen Kompromiss eingegangen: Sie besteht aus
Secondhand-Möbeln, die sie unter anderem von Spezialisten bekamen, die
Einrichtungen von Räumungen «retten» und zur Wiederverwendung weitergeben.
«Natürlich ist das etwas aufwendiger, doch es geht ums Prinzip.»
Das
momentan zweiköpfige Team soll bis Ende Jahr auf sechs Personen wachsen.
Aufgrund des grösseren Platzbedarfs sind die ans «Headoffice» anschliessenden
Büros bereits gemietet. Dahmen ist Architekt und Software-Entwickler. Nach
einer leitenden, technischen Rolle bei Herzog & de Meuron reizte ihn die
Chance, den Aufbau eines Start-ups mitzugestalten. Kirschbaum ist studierter
Soziologe und Medienwissenschaftler. Schon früh agierte er als Berater für
Kommunikation und digitale Plattformen. Mit «EcoTool» baut er nun seine eigene
auf. «Nachhaltigkeit gehört seit meiner Kindheit zu meinem Mindset.»
Innerhalb des Bauingenieurunternehmens ZPF und in Zusammenarbeit mit dem Kanton Basel-Stadt wurde bereits 2020 ein erster Prototyp von «EcoTool» entwickelt, der schnell grossen Anklang fand. Die Aufgabe von Kirschbaum und Dahmen bestand darin, das Tool zur Marktreife zu bringen. Als dies gelang, wagten die beiden im Sommer 2024 den Schritt in die Selbständigkeit. «Wir mussten zum Glück nicht wie ein klassisches Start-up bei Null anfangen. Dass wir bereits ein gut funktionierendes Tool, erste Kunden und ein tolles Team hatten, kam uns entgegen», kommentiert Kirschbaum.

Quelle: Simone Matthieu
Oliver Kirschbaum, Geschäftsleiter von «EcoTool», und Kerstin Müller, Mitglied Geschäftsführung von Zirkular, arbeiten eng zusammen für die Energiewende in der Baubranche.
Nachhaltigkeit unter der Lupe
Er zeigt dem Baublatt seine Software. Sie funktioniert
intuitiv und verständlich. «Bevor es unser Tool gab, musste man die
Nachhaltigkeit von Teilen eines Gebäudes aufwendig selbst berechnen.» Bei
«EcoTool» macht das der Computer. Architekten oder Bauherren können
beispielsweise die Zusammensetzung einer geplanten Decke unter die
Nachhaltigkeits-Lupe nehmen. Indem man die einzelnen Schichten des
Decken-Materials verstärkt, reduziert oder ersetzt, zeigt das Programm, wie
sich die Ökobilanz verbessert oder verschlechtert. So kann man das auch bei
Wänden oder Böden tun – also allen Horizontalen und Vertikalen an einem Bau.
«Es gibt so viel Potential», sagt Kirschbaum.
Wie wichtig ein rechtzeitiger Fokus auf die Ökobilanz sein
kann, erklärt Kirschbaum anhand eines Architekturwettbewerbs: «In dieser frühen
Phase werden die entscheidenden Hebel in Bezug auf die Nachhaltigkeit des
Gebäudes gelegt – es geht um Themen wie Grundriss, Tragstruktur, Material oder
Anzahl Untergeschosse.» Gleichzeitig sieht er eine wichtige Rolle bei den
Bauherrschaften: «Indem sie bereits im Wettbewerb Zielvorgaben zu den
Treibhausgasemissionen für Erstellung und Betrieb eines Gebäudes machen, bestimmen
sie die zukünftige Baukultur aktiv mit.»
Ganz konkret zeigt sich das am Beispiel des Kantons Basel-Stadt: Bedingt durch hohe Klimaziele und entsprechende Vorgaben zur Nachhaltigkeit von staatlichen Bauten werden deren Architekturwettbewerbe seit längerer Zeit mit «EcoTool» bilanziert. «Basel legte ausserdem schon früh den Fokus auf Wiederverwendung im Bausektor», freut sich Kirschbaum. «Und es kommen immer mehr Städte und Gemeinden dazu, die mitziehen.»

Quelle: Gisela Graf
Einblick ins Software-Tool: eine Projektauswertung mit Angaben zu den Emissionen aus Erstellung, Betrieb und kombiniert.

Quelle: Gisela Graf
Mit der Reuse-Funktion im «EcoTool» kann die Ökobilanz von wiederverwendeten Bauteilen und Materialien berechnet werden.
Prüfung im Planungsprozess
Wer sich mit Kreislaufwirtschaft im Bausektor befasst, kommt
in der Regel zum selben Schluss: Die Nachhaltigkeit einer Immobilie muss im
Planungsprozess so früh wie möglich geprüft werden. Und: Interdisziplinäres
Arbeiten ist eine Grundbedingung, damit alle Aspekte von Anfang an
berücksichtigt werden. Neubauten sollten so konstruiert werden, dass sie im
Bestand für einen anderen Zweck umgebaut werden können. Oder so, dass sie –
sollte ein Abriss nötig sein – in ihre Bestandteile zerlegbar und diese wiederverwendbar
sind.
«EcoTool» nimmt diesen Ansatz mit in die Berechnung der
Ökobilanz eines Neu- oder Umbaus auf. So wie man durch die Vergrösserung oder
Verkleinerung einer Wand- oder Decken-Komponente berechnen kann, ob der Bau
dadurch nachhaltiger wird, gibt es die Option, statt mit neuem Material mit
bestehendem zu rechnen. Jedes geplante Bauteil kann auf «Reuse» gesetzt werden,
das heisst, es kommt aus zweiter Hand. Damit sinken die Emissionen
massiv.
Ein Beispiel für diese Art zu bauen, zeigt eine bereits im Architekturwettbewerb mit «EcoTool» bilanzierte Überbauung auf dem Areal Walkenweg des Kantons Basel-Stadt: Hier entstehen preisgünstige Wohnungen. Für die Gebäude werden Träger und Betonelemente aus dem Rückbau des Lysbüchel-Parkhauses eingesetzt – als Tragstruktur sowie zur Gestaltung der Fassade.

Quelle: zvg
Die Ökobilanz der Basler Überbauung Walkenweg wurde bereits für den Architekturwettbewerb mit «EcoTool» berechnet. Für die Wohngebäude wurden Träger und Betonelemente aus dem Rückbau des Lysbüchel-Parkhauses eingesetzt.
Secondhand-Bauteile «matchen»
An dieser Stelle kommt ein Partnerunternehmen von «EcoTool»
ins Spiel – irgendwoher müssen die wiederverwendbaren Materialien ja kommen.
Dafür steht Zirkular. Kerstin Müller, Architektin und Mitglied der
Geschäftsleitung erklärt: «Zirkular ist aus dem ‹baubüro in situ›
hervorgegangen. Dieses hatte viele Jahre lang Erfahrung gesammelt im Einsatz
von wiederverwendeten Bauteilen in ihren Projekten. Als Zirkular wollen wir
einen Sprung machen, und hunderte anstelle von einem Fenster in die
Wiederverwendung bringen. Auch für Projekte ausserhalb unseres eigenen
Architekurbüros.»
Der Business Case von Zirkular war, so Müller: «80 Prozent
des Abfalls in der Schweiz stammt vom Bau und vieles davon ist noch in
wunderbarem Zustand, liesse sich also weiter nutzen, statt entsorgt zu werden.
Gleichzeitig gibt es immer mehr Leute, die gewisse Sachen gerne übernehmen
würden, oft aber nicht wissen, wo sie das Gesuchte finden, und wie sie diese
Bauteile in den Planungsprozess einbinden können. Wir sehen uns als Ermöglicher
und Ermöglicherinnen, um ReUse-Komponenten im Kreislauf zu halten und grundsätzlich
das Baugewerbe hin zur Kreislaufwirtschaft auszurichten.» Mit dieser Vision
waren sieben Mitarbeitende von Zirkular bei der Gründung vor fünf Jahren zur
richtigen Zeit am richtigen Ort – heute sind sie bereits 23. «Wir wollen Teil
der Bauwende sein», betont Kerstin Müller.
Oft muss Zirkular noch selbst aktiv nach Material suchen,
das sich wiederverwenden lässt. Doch mittlerweile kommen Projektleitende von
sich aus auf Zirkular zu, um ihre Um-und Rückbauvorhaben auf qualitativ
hochwertige Bauteile untersuchen zu lassen, die sich für den Wiedereinsatz
eignen. Die Zusammenarbeit mit Basel-Stadt und Zürich hat sich bewährt. Die
beiden Städte nehmen eine Vorreiterrolle ein in Sachen ReUse und besitzen Lager
für «gerettete» Bauteile. Die Lager sind wichtig: Findet ein grösserer Rückbau
statt, heisst das nicht, dass alle herausgeholten Bauteile gleich einen
Abnehmer finden.
Zirkular nutzt das selbstentwickelte Tool «planular», um gesuchte mit vorhandenen Bauteilen zu «matchen» und das Zusammenspiel des gesamten Wiederverwendungsprozesses mit den beteiligten Akteuren, Lagerflächen und Dokumentationen zu vereinfachen. Der Kanton Basel-Stadt nutzt derzeit einen Online-Katalog, der angibt, welche Bauteile verfügbar sind. Für die kantonseigenen Architekturwettbewerbe können diese in «EcoTool» übernommen und bilanziert werden.

Quelle: Martin Zeller
Bei diesen Rückbauten werden wiederverwendbare Bauteile wie Fassadenelemente, Fenster und Stahlträger demontiert. Nach einem Zwischenstopp in einem Reuse-Lager geht es weiter zum Wiedereinbau in einem anderen Gebäude.
Haftung als wichtiges Thema
Noch ist allerdings nicht alles so geregelt, wie es sich
Unternehmen wie Zirkular oder «EcoTool» wünschen. Ein wichtiges Thema ist die
Haftung: Wer stellt sicher, dass das wiederzuverwendete Bauteil die
erforderliche Qualität aufweist? Welche kompensatorischen Massnahmen müssen im
Projekt umgesetzt werden, um allfällige Risiken zu minimieren? «Städte wie
Zürich, Basel oder auch München beginnen damit, Bauteile aus eigenen Rückbauten
in neue Gebäude zu integrieren. Das ist momentan die beste Herangehensweise –
innerhalb des eigenen Portfolios lassen sich die Prozesse besser steuern», sagt
Kirschbaum. Das Ziel kann jedoch nicht sein, dass jeder Kanton für sich
werkelt.
Es fehlt zudem an Rahmenbedingungen für eine reibungslos funktionierende ReUse-Wirtschaft. «Standards müssen entwickelt werden», sagt Kerstin Müller. «Als Bauherr oder Architektin in Basel muss ich wissen, ob ich die angebotenen Fenster aus Genf nehmen kann, ohne dass ich sie mir zuerst anschauen gehen muss.» Ebenfalls ein Thema ist: Wie bewertet man Dinge, die demontiert und andernorts wieder eingebaut werden sollen? Zirkular kann das anhand von Beispielen und dem langjährigen Knowhow seiner Mitarbeiter in etwa beziffern, beziehungsweise die erforderlichen Untersuchungen veranlassen. Auch der in «EcoTool» hinterlegte ReUse-Faktor wurde von den Experten von Zirkular kalkuliert.

Quelle: Martin Zeller
Bei diesen Rückbauten werden wiederverwendbare Bauteile wie Fassadenelemente, Fenster und Stahlträger demontiert. Nach einem Zwischenstopp in einem Reuse-Lager geht es weiter zum Wiedereinbau in einem anderen Gebäude.
Auf dem richtigen Weg
Müller und Kirschbaum sind sich sicher, dass sie mit ihren Unternehmen auf dem richtigen Weg sind – auch wenn es noch viel Überzeugungs- und Aufklärungs-Arbeit zu verrichten gilt. Beide merken, wie sich die Branche bewegt. Der «EcoTool»-Geschäftsführer ist «sehr optimistisch»: «Noch sind es vor allem die Pioniere, die den Fokus voll auf nachhaltige Bauweisen legen. Es gehört mit zu unserem Job, unser Anliegen noch stärker in die Breite zu tragen.»
Und das über die Landesgrenzen heraus. Etwa an den europaweit stattfindenden Kongressen zum Thema, die regelmässig vom länderübergreifenden Reuse-Netzwerk «Circular(x)change» veranstaltet werden. An den Treffen in Wien oder Kopenhagen war man begeistert, als man von den Entwicklungen in der Schweiz hörte. «Jetzt hat man die Chance, mit neuen Herangehensweisen offene Türen einzurennen – der Wandel ist eingeläutet», ist Müller überzeugt. Auch Kirschbaum meint: «Es ist absehbar, dass die Nachhaltigkeit eines Gebäudes Teil seiner Bewertung werden wird. Das wird das Bauwesen prägen.»
Software-Tool
«EcoTool» ist eine frei verfügbare Software für die
Ökobilanzierung von Gebäuden. Es braucht vergleichsweise wenige Daten zum
Standort, den eingesetzten Materialien und der Konstruktion – konkret zu
Decken-, Wand- und Fassadenaufbauten – um das Tool nutzen zu können. Die
Funktionen sind selbsterklärend, zudem hilft eine Dokumentation beim
Zurechtfinden.
Architekturbüro
Zirkular ist ein Architekturbüro, das mit wiederverwendeten
Bauteilen arbeitet. Die Reuse-Materialien, die sie von Um-oder Rückbauten in
der ganzen Schweiz erhalten, stellen sie auch anderen zur Verfügung. Zirkular
veranstaltet zudem Anlässe mit Informationen und Diskussionen zu Reuse.