07:14 BAUPRAXIS

Software-Tool für Nachhaltigkeit: «Das kann ich», statt «das will ich»

Geschrieben von: Simone Matthieu
Teaserbild-Quelle: Martin Zeller

Kreislaufwirtschaft und Nachhaltigkeit werden im Bausektor immer wichtiger. Ein Software-Tool ermöglicht es, Emissionen eines Gebäudes für seinen ganzen Lebenszyklus zu kalkulieren: Einberechnet werden Herstellungs- und Betriebsenergie sowie die Energie für den Rückbau.

«EcoTool» hat seinen Sitz in Basel, der Eingang liegt im Hinterhof eines über 700 Jahre alten Gebäudes. Womit wir schon beim Thema wären: «Ein solch altes Haus hat eine gute Ökobilanz», sagt Oliver Kirschbaum, Co-Gründer und Geschäftsleiter des Online-Werkzeugs, das praktisch für jeden Teil eines geplanten Neu- oder Umbaus die Nachhaltigkeit ausrechnet und aufzeigt, wie diese verbessert werden kann. Kirschbaum und sein Kollege Marc Anton Dahmen sind schon bei der Einrichtung ihres Büros keinen Kompromiss eingegangen: Sie besteht aus Secondhand-Möbeln, die sie unter anderem von Spezialisten bekamen, die Einrichtungen von Räumungen «retten» und zur Wiederverwendung weitergeben. «Natürlich ist das etwas aufwendiger, doch es geht ums Prinzip.» 

Das momentan zweiköpfige Team soll bis Ende Jahr auf sechs Personen wachsen. Aufgrund des grösseren Platzbedarfs sind die ans «Headoffice» anschliessenden Büros bereits gemietet. Dahmen ist Architekt und Software-Entwickler. Nach einer leitenden, technischen Rolle bei Herzog & de Meuron reizte ihn die Chance, den Aufbau eines Start-ups mitzugestalten. Kirschbaum ist studierter Soziologe und Medienwissenschaftler. Schon früh agierte er als Berater für Kommunikation und digitale Plattformen. Mit «EcoTool» baut er nun seine eigene auf. «Nachhaltigkeit gehört seit meiner Kindheit zu meinem Mindset.» 

Innerhalb des Bauingenieurunternehmens ZPF und in Zusammenarbeit mit dem Kanton Basel-Stadt wurde bereits 2020 ein erster Prototyp von «EcoTool» entwickelt, der schnell grossen Anklang fand. Die Aufgabe von Kirschbaum und Dahmen bestand darin, das Tool zur Marktreife zu bringen. Als dies gelang, wagten die beiden im Sommer 2024 den Schritt in die Selbständigkeit. «Wir mussten zum Glück nicht wie ein klassisches Start-up bei Null anfangen. Dass wir bereits ein gut funktionierendes Tool, erste Kunden und ein tolles Team hatten, kam uns entgegen», kommentiert Kirschbaum.  

Oliver Kirschbaum und Kerstin Müller

Quelle: Simone Matthieu

Oliver Kirschbaum, Geschäftsleiter von «EcoTool», und Kerstin Müller, Mitglied Geschäftsführung von Zirkular, arbeiten eng zusammen für die Energiewende in der Baubranche.

Nachhaltigkeit unter der Lupe 

Er zeigt dem Baublatt seine Software. Sie funktioniert intuitiv und verständlich. «Bevor es unser Tool gab, musste man die Nachhaltigkeit von Teilen eines Gebäudes aufwendig selbst berechnen.» Bei «EcoTool» macht das der Computer. Architekten oder Bauherren können beispielsweise die Zusammensetzung einer geplanten Decke unter die Nachhaltigkeits-Lupe nehmen. Indem man die einzelnen Schichten des Decken-Materials verstärkt, reduziert oder ersetzt, zeigt das Programm, wie sich die Ökobilanz verbessert oder verschlechtert. So kann man das auch bei Wänden oder Böden tun – also allen Horizontalen und Vertikalen an einem Bau. «Es gibt so viel Potential», sagt Kirschbaum. 

Wie wichtig ein rechtzeitiger Fokus auf die Ökobilanz sein kann, erklärt Kirschbaum anhand eines Architekturwettbewerbs: «In dieser frühen Phase werden die entscheidenden Hebel in Bezug auf die Nachhaltigkeit des Gebäudes gelegt – es geht um Themen wie Grundriss, Tragstruktur, Material oder Anzahl Untergeschosse.» Gleichzeitig sieht er eine wichtige Rolle bei den Bauherrschaften: «Indem sie bereits im Wettbewerb Zielvorgaben zu den Treibhausgasemissionen für Erstellung und Betrieb eines Gebäudes machen, bestimmen sie die zukünftige Baukultur aktiv mit.» 

Ganz konkret zeigt sich das am Beispiel des Kantons Basel-Stadt: Bedingt durch hohe Klimaziele und entsprechende Vorgaben zur Nachhaltigkeit von staatlichen Bauten werden deren Architekturwettbewerbe seit längerer Zeit mit «EcoTool» bilanziert. «Basel legte ausserdem schon früh den Fokus auf Wiederverwendung im Bausektor», freut sich Kirschbaum. «Und es kommen immer mehr Städte und Gemeinden dazu, die mitziehen.» 

EcoTool Bauherren Cockpit Auswertung

Quelle: Gisela Graf

Einblick ins Software-Tool: eine Projektauswertung mit Angaben zu den Emissionen aus Erstellung, Betrieb und kombiniert.

EcoTool ReUse

Quelle: Gisela Graf

Mit der Reuse-Funktion im «EcoTool» kann die Ökobilanz von wiederverwendeten Bauteilen und Materialien berechnet werden.

Prüfung im Planungsprozess 

Wer sich mit Kreislaufwirtschaft im Bausektor befasst, kommt in der Regel zum selben Schluss: Die Nachhaltigkeit einer Immobilie muss im Planungsprozess so früh wie möglich geprüft werden. Und: Interdisziplinäres Arbeiten ist eine Grundbedingung, damit alle Aspekte von Anfang an berücksichtigt werden. Neubauten sollten so konstruiert werden, dass sie im Bestand für einen anderen Zweck umgebaut werden können. Oder so, dass sie – sollte ein Abriss nötig sein – in ihre Bestandteile zerlegbar und diese wiederverwendbar sind. 

«EcoTool» nimmt diesen Ansatz mit in die Berechnung der Ökobilanz eines Neu- oder Umbaus auf. So wie man durch die Vergrösserung oder Verkleinerung einer Wand- oder Decken-Komponente berechnen kann, ob der Bau dadurch nachhaltiger wird, gibt es die Option, statt mit neuem Material mit bestehendem zu rechnen. Jedes geplante Bauteil kann auf «Reuse» gesetzt werden, das heisst, es kommt aus zweiter Hand. Damit sinken die Emissionen massiv. 

Ein Beispiel für diese Art zu bauen, zeigt eine bereits im Architekturwettbewerb mit «EcoTool» bilanzierte Überbauung auf dem Areal Walkenweg des Kantons Basel-Stadt: Hier entstehen preisgünstige Wohnungen. Für die Gebäude werden Träger und Betonelemente aus dem Rückbau des Lysbüchel-Parkhauses eingesetzt – als Tragstruktur sowie zur Gestaltung der Fassade. 

Überbauung Walkeweg Basel Hinterseite

Quelle: zvg

Die Ökobilanz der Basler Überbauung Walkenweg wurde bereits für den Architekturwettbewerb mit «EcoTool» berechnet. Für die Wohngebäude wurden Träger und Betonelemente aus dem Rückbau des Lysbüchel-Parkhauses eingesetzt.

Secondhand-Bauteile «matchen» 

An dieser Stelle kommt ein Partnerunternehmen von «EcoTool» ins Spiel – irgendwoher müssen die wiederverwendbaren Materialien ja kommen. Dafür steht Zirkular. Kerstin Müller, Architektin und Mitglied der Geschäftsleitung erklärt: «Zirkular ist aus dem ‹baubüro in situ› hervorgegangen. Dieses hatte viele Jahre lang Erfahrung gesammelt im Einsatz von wiederverwendeten Bauteilen in ihren Projekten. Als Zirkular wollen wir einen Sprung machen, und hunderte anstelle von einem Fenster in die Wiederverwendung bringen. Auch für Projekte ausserhalb unseres eigenen Architekurbüros.» 

Der Business Case von Zirkular war, so Müller: «80 Prozent des Abfalls in der Schweiz stammt vom Bau und vieles davon ist noch in wunderbarem Zustand, liesse sich also weiter nutzen, statt entsorgt zu werden. Gleichzeitig gibt es immer mehr Leute, die gewisse Sachen gerne übernehmen würden, oft aber nicht wissen, wo sie das Gesuchte finden, und wie sie diese Bauteile in den Planungsprozess einbinden können. Wir sehen uns als Ermöglicher und Ermöglicherinnen, um ReUse-Komponenten im Kreislauf zu halten und grundsätzlich das Baugewerbe hin zur Kreislaufwirtschaft auszurichten.» Mit dieser Vision waren sieben Mitarbeitende von Zirkular bei der Gründung vor fünf Jahren zur richtigen Zeit am richtigen Ort – heute sind sie bereits 23. «Wir wollen Teil der Bauwende sein», betont Kerstin Müller. 

Oft muss Zirkular noch selbst aktiv nach Material suchen, das sich wiederverwenden lässt. Doch mittlerweile kommen Projektleitende von sich aus auf Zirkular zu, um ihre Um-und Rückbauvorhaben auf qualitativ hochwertige Bauteile untersuchen zu lassen, die sich für den Wiedereinsatz eignen. Die Zusammenarbeit mit Basel-Stadt und Zürich hat sich bewährt. Die beiden Städte nehmen eine Vorreiterrolle ein in Sachen ReUse und besitzen Lager für «gerettete» Bauteile. Die Lager sind wichtig: Findet ein grösserer Rückbau statt, heisst das nicht, dass alle herausgeholten Bauteile gleich einen Abnehmer finden. 

Zirkular nutzt das selbstentwickelte Tool «planular», um gesuchte mit vorhandenen Bauteilen zu «matchen» und das Zusammenspiel des gesamten Wiederverwendungsprozesses mit den beteiligten Akteuren, Lagerflächen und Dokumentationen zu vereinfachen. Der Kanton Basel-Stadt nutzt derzeit einen Online-Katalog, der angibt, welche Bauteile verfügbar sind. Für die kantonseigenen Architekturwettbewerbe können diese in «EcoTool» übernommen und bilanziert werden. 

Zirkular Re-Use-Materialien aus Rückbau

Quelle: Martin Zeller

Bei diesen Rückbauten werden wiederverwendbare Bauteile wie Fassadenelemente, Fenster und Stahlträger demontiert. Nach einem Zwischenstopp in einem Reuse-Lager geht es weiter zum Wiedereinbau in einem anderen Gebäude.

Haftung als wichtiges Thema 

Noch ist allerdings nicht alles so geregelt, wie es sich Unternehmen wie Zirkular oder «EcoTool» wünschen. Ein wichtiges Thema ist die Haftung: Wer stellt sicher, dass das wiederzuverwendete Bauteil die erforderliche Qualität aufweist? Welche kompensatorischen Massnahmen müssen im Projekt umgesetzt werden, um allfällige Risiken zu minimieren? «Städte wie Zürich, Basel oder auch München beginnen damit, Bauteile aus eigenen Rückbauten in neue Gebäude zu integrieren. Das ist momentan die beste Herangehensweise – innerhalb des eigenen Portfolios lassen sich die Prozesse besser steuern», sagt Kirschbaum. Das Ziel kann jedoch nicht sein, dass jeder Kanton für sich werkelt. 

Es fehlt zudem an Rahmenbedingungen für eine reibungslos funktionierende ReUse-Wirtschaft. «Standards müssen entwickelt werden», sagt Kerstin Müller. «Als Bauherr oder Architektin in Basel muss ich wissen, ob ich die angebotenen Fenster aus Genf nehmen kann, ohne dass ich sie mir zuerst anschauen gehen muss.» Ebenfalls ein Thema ist: Wie bewertet man Dinge, die demontiert und andernorts wieder eingebaut werden sollen? Zirkular kann das anhand von Beispielen und dem langjährigen Knowhow seiner Mitarbeiter in etwa beziffern, beziehungsweise die erforderlichen Untersuchungen veranlassen. Auch der in «EcoTool» hinterlegte ReUse-Faktor wurde von den Experten von Zirkular kalkuliert. 

Zirkular Re-Use-Materialien aus Rückbau

Quelle: Martin Zeller

Bei diesen Rückbauten werden wiederverwendbare Bauteile wie Fassadenelemente, Fenster und Stahlträger demontiert. Nach einem Zwischenstopp in einem Reuse-Lager geht es weiter zum Wiedereinbau in einem anderen Gebäude.

Auf dem richtigen Weg 

Müller und Kirschbaum sind sich sicher, dass sie mit ihren Unternehmen auf dem richtigen Weg sind – auch wenn es noch viel Überzeugungs- und Aufklärungs-Arbeit zu verrichten gilt. Beide merken, wie sich die Branche bewegt. Der «EcoTool»-Geschäftsführer ist «sehr optimistisch»: «Noch sind es vor allem die Pioniere, die den Fokus voll auf nachhaltige Bauweisen legen. Es gehört mit zu unserem Job, unser Anliegen noch stärker in die Breite zu tragen.»

Und das über die Landesgrenzen heraus. Etwa an den europaweit stattfindenden Kongressen zum Thema, die regelmässig vom länderübergreifenden Reuse-Netzwerk «Circular(x)change» veranstaltet werden. An den Treffen in Wien oder Kopenhagen war man begeistert, als man von den Entwicklungen in der Schweiz hörte. «Jetzt hat man die Chance, mit neuen Herangehensweisen offene Türen einzurennen – der Wandel ist eingeläutet», ist Müller überzeugt. Auch Kirschbaum meint: «Es ist absehbar, dass die Nachhaltigkeit eines Gebäudes Teil seiner Bewertung werden wird. Das wird das Bauwesen prägen.»

Software-Tool

«EcoTool» ist eine frei verfügbare Software für die Ökobilanzierung von Gebäuden. Es braucht vergleichsweise wenige Daten zum Standort, den eingesetzten Materialien und der Konstruktion – konkret zu Decken-, Wand- und Fassadenaufbauten – um das Tool nutzen zu können. Die Funktionen sind selbsterklärend, zudem hilft eine Dokumentation beim Zurechtfinden. 

www.ecotool.org

Architekturbüro

Zirkular ist ein Architekturbüro, das mit wiederverwendeten Bauteilen arbeitet. Die Reuse-Materialien, die sie von Um-oder Rückbauten in der ganzen Schweiz erhalten, stellen sie auch anderen zur Verfügung. Zirkular veranstaltet zudem Anlässe mit Informationen und Diskussionen zu Reuse. 

www.zirkular.net

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Freie Mitarbeiterin für das Baublatt.

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