09:07 BAUPRAXIS

«As kunnt Holz!»: Die jahrhundertealte Tradition des Rheinholzens

Geschrieben von: Karin Stei
Teaserbild-Quelle: Karin Stei

Im Rheintal wird eine jahrhundertealte Tradition aufrechterhalten: das Rheinholzen. In der Hochwasserzeit von Mai bis Oktober fischen wagemutige Männer und Frauen das Schwemmholz aus dem wilden Fluss. Was früher das Überleben sicherte, ist heute ein Hobby, das leidenschaftlich gelebt wird.

Eugen Baumgartner beim Rheinholzen im Rheintal

Quelle: Karin Stei

Im Rheintal wird eine alte Tradition gepflegt: das Rheinholzen. Jeder Rheinholzer hat dabei seinen angestammten Platz, wie Eugen Baumgartner hier am Rheinufer in der Nähe von Kriessern.

«As kunnt Holz!»: Wenn dieser Ruf ertönt, gibt es für die Rheinholzer kein Halten mehr. Frauen und Männer aus den Gemeinden entlang des Rheinufers in der Schweiz, Liechtenstein und Österreich versammeln sich bei Wind und Wetter und werden zu Holzfischern. Mit Wurfhaken, Stangen, Zangengreifern und viel körperlichem Einsatz holen sie bei Hochwasser das im Rhein treibende, herrenlose Schwemmholz an Land.

Einen hautnahen Einblick in das Brauchtum konnten die Teilnehmer der Rheinverband-Vortragsreihe des Schweizerischen Wasserwirtschaftsverbands kürzlich gewinnen. In Kriessern im St. Galler Rheintal lud der Verband den dort ansässigen Chef der Rheinholzervereinigung, Eugen Baumgartner, ein, um nicht nur über das Rheinholzen zu referieren, sondern es im Anschluss auch gleich zu demonstrieren: quasi Rheinholzen unter «Laborbedingungen».

Denn nicht Unwetter über dem Bündnerland sorgten für Hochwasser und hinabtreibende Baumstämme. Mitarbeiter des Rheinunternehmens des Kantons St. Gallen, die für den Hochwasserschutz und den Erhalt der Dämme des Alpenrheins von Bad Ragaz bis St. Margrethen zuständig sind, setzten flussaufwärts nacheinander Stämme von einem Krananhänger ins Wasser ab. Auch wenn dies nicht der Realität entsprach: Die Spannung und Konzentration flussabwärts waren greifbar. Viel Erfahrung, Übung und Beherztheit sind nötig, dem Fluss die Stämme abzutrotzen.

Technik und Leidenschaft

Noel Steiger (19), der Enkel Eugen Baumgartners, und sein gleichaltriger Kollege Niklas Leuener warten auf den perfekten Moment, ihre Wurfhaken fliegen zu lassen. Die selbst hergestellten Werkzeuge haben drei oder vier Zinken, durch den Stiel läuft ein rund 30 Meter langes Nylonseil. «Die Länge des Seils und Schwere und Grösse des Hakens sind an den Werfer angepasst. Sonst kann es Verletzungen an Wadenbein und Fuss geben», erklärt Noel Steiger.

Bei Hochwasser können viele Stämme im Wasser treiben. Es bedarf eines guten Auges und Erfahrung, um abschätzen zu können, ob sich der Stamm eignet und gesund ist. «Man muss darauf achten, wie der Stamm im Wasser treibt und dementsprechend den Wurf ansetzen. Wenn man ihn getroffen hat, braucht es noch eine Portion Glück, dass sich der Wurfhaken nicht aushakt und man den Stamm an Land ziehen kann», sagt Noel Steiger und sein Grossvater ergänzt: «Ist der Stamm zu glatt, dreht er sich und der Haken hängt aus. Aber lieber ist der Haken weg als man selbst.» Sicherheit wird beim Rheinholzen gross geschrieben. Ausser Muskelkater und blaue Flecken gab es schon lange nichts Schlimmeres zu beklagen.

Als der erste Stamm anschwimmt, nehmen Noel Steiger und Niklas Leuener ihre Wurfhaken und fixieren das Schwemmholz. Ein schwungvolles Ausholen – die Haken fliegen Richtung Stamm. Glück gehabt. Sie bleiben haften. Jetzt heisst es flink sein und mit der Strömung mitlaufen, um nicht mitgerissen zu werden. Ein 100-Meter-Sprint ist nicht ungewöhnlich. Bei Hochwasser kann die Fliessgeschwindigkeit 23 Stundenkilometer betragen, selbst bei «normalen» Bedingungen fliesst der Rhein mit 6,7 Stundenkilometern schneller als zügiges Gehen.

Vorsichtig ziehen die beiden den Stamm Richtung Ufer. Dort warten meist ältere Rheinholzer mit Stangenhaken und dem «Zabbi», einem an einem Holzstiel befestigten massiven Zinken, und fixieren den Stamm so gut es geht fest. Mit einer von Eugen Baumgartner konstruierten «Holzerzange» wird der Stamm gepackt, mit einem Drahtseil an einem Traktor hochgezogen und weggeschleppt. Die Stämme werden anschliessend mit einer Motorsäge zu ein Meter grossen Stücken gesägt und entweder direkt am Rhein oder zu Hause mit einer Spaltmaschine zu Feuerholz verarbeitet. Drei bis fünf Jahre muss es trocknen, bevor es in den Ofen wandern kann.

Rheinholzen im Rheintal

Quelle: Karin Stei

Im Gegensatz zu früher, erleichtern heute moderne Hilfsmittel wie ein Traktor den Abtransport des Schwemmholzes.

Brauchtum, aus der Not geboren

In früheren Zeiten war das Holzfischen existenziell für die Bewohner im Rheintal. Denn Waldholz war in der waldarmen Gegend fast unerschwinglich. Das Schwemmholz bildete die einzige Möglichkeit, an Brennmaterial zu kommen. Mit wenigen Hilfsmitteln wurde jahrhundertelang das Holz am Ufer eingesammelt und mit Ochsen und Wagen fortgebracht. Die neue Technik der Wurfhaken ist eine spätere Erfindung.

Um so viel wie möglich herauszuziehen, wagten sich die Rheinholzer sogar mit Booten ins reissende Wasser, befestigten die Stämme mit Haken und Seilen am Boot und ruderten so ans Ufer. Davon zeugt heute das letzte, fahrtüchtige Rheinholzerschiff, das Eugen Baumgartner vor der Zerstörung bewahrt hat. «Bis in die 1960er-,70er-Jahre ruderten noch fünf Familien raus und schlugen das Holz am Boot an», erinnert sich der Kriessener.

Die Tradition des Rheinholzens hält heute nicht nur die Rheinholzervereinigung aufrecht, sondern viele Männer und Frauen der Schweizer, liechtensteinischen und österreichischen Dörfer entlang des Rheins von Buchs bis Au üben es als leidenschaftliches Hobby aus.

Die Rheinholzervereinigung

Die Vereinigung der Rheinholzer wurde 1990 bei Milch und Riebel von fünf Vollblut-Rheinholzern gegründet. Mit klaren Hierarchien. Hier sagt der «Chef», wo es langgeht. Seit 2009 ist dies erfolgreich der Kriessener Eugen Baumgartner. 58 Mitglieder zwischen Sevelen und Au zählt heute die Vereinigung. Eintreten kann man mit 16 Jahren und auch Zugezogene sind willkommen. Das Rheinholzen lernte Baumgartner von seinem Vater, als Kind wartete er nichts sehnlicher als auf Hochwasser. «Da hat man schon mal die Schule geschwänzt. Alle paar Stunden ist man nachts raus und hat geschaut, ob der Rhein gewachsen ist.» Heute erleichtert das Handy die Kommunikation und die Suche nach Hydrodaten.

Aber Eugen Baumgartner hat noch einen besonderen Trumpf im Ärmel. Über einen Kontakt im Kraftwerk Reichenau – ein Laufwasserkraftwerk am Alpenrhein oberhalb von Domat / Ems – erhält er zuverlässig Bescheid, wenn es ernst wird. «Ab zirka 420 Kubikmeter pro Sekunde kann man sagen, dass der Rhein Holz bringen wird. Dann gehen die Klappen im Wasserwerk auf und vier, fünf Stunden später, je nach Wasserstand, ist das Holz bei uns.» Dann treffen sich die Rheinholzer, jeder an seinem angestammten Platz, der in der Familie oder durch andere Rheinholzer weitergegeben wird.

Rheinholzen im Rheintal

Quelle: Karin Stei

Gleich mehrere Rheinholzer versuchen ihr Glück beim Werfen.

28 Meter langer Baum

Ob Wind oder Regen – das Wetter spielt keine Rolle. Selbst nachts werden die «Brocka» und «uhura Band» rausgezogen. Früher unter dem schummrigen Licht von Sturmlampen, heute unter der Beleuchtung von Notstromgruppen und Scheinwerfern. Die beste Ausbeute seines Lebens? Da muss Eugen Baumgartner nicht lange nachdenken. 1987 war der Rhein voller Holz, eine ganze Sägerei wurde weggeschwemmt und die fein säuberlich bearbeiteten Stämme wurden zu begehrtem Schwemmholz. Der längste, jemals von Baumgartner gefischte Stamm mit Stock und Ästen war übrigens 28 Meter lang und hatte einen Durchmesser von 75 cm.

Warum man sich die Strapazen antut? «Es ist die Aufregung, was kommt», sagt Noel Steiger, der bereits als Achtjähriger mit seinem Wurfhaken am Rhein stand. Für Martin Halter fing alles 1990 an, als er als Zaungast das Rheinholzen verfolgte und einen Wurfhaken zum Ausprobieren bekam. Der verschwand zwar auf Nimmerwiedersehen im Rhein, aber Martin Halters Leidenschaft war damit entfacht: «Es ist Hobby, Freude, Tradition, Nervenkitzel total.»

Oder wie Eugen Baumgartner es ausdrückt: «Holzerfieber». Das hat auch viele jüngere Rheintaler ergriffen, die den Joystick nun gegen den Wurfhaken tauschen. Die Sterne stehen also gut, dass auch in Zukunft der Ruf ertönt: «As kunnt Holz!»

Mehr über das Rheinholzen

Wer das Thema vertiefen möchte, dem seien der Dokumentarfilm «Rheinholzen» (2009) und das Buch «Rheinholzer – Die andere Generation» (Gutenberg AG, Schaan, 2001) von Kuno Bont ans Herz gelegt.

Rheinholzerausdrücke

  • a Miglanäascht: schwimmender Kleinholzteppich oder Ablagerung nach dem Hochwasserrückgang
  • a Müsala: 1-2 Meter langes Holzstück von mittlerer Dicke
  • an Brocka: dicker, kurzer Stamm
  • an Sägklotz: aufgerüsteter Stamm mit stirnseitiger Nummer
  • a Band: ein langer, meist glatter Stamm, der über 8 Meter misst
  • a uhuara Band: ein langer, meist glatter Stamm, der über 15 Meter misst
  • a Tann: ein Nadelbaum mit Wurzeln und Ästen
  • an Stock: eine dicke Wurzel
  • Pschütti: sehr dunkles erdiges Rheinwasser
  • Läatta: abgelagerter Geschiebesand
  • a Beass: ein Keil, um Holz zu spalten
  • a Schollatrucka: Wagen, mit dem das Rheinholzermaterial an den Rhein geführt wird
  • an Weidling: ein Rheinholzerboot

Geschrieben von

Freie Mitarbeiterin für das Baublatt.

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