08:01 BAUBRANCHE

Berner Denkmaldebatte: Verändere mit Bedacht

Geschrieben von: Manuel Pestalozzi (mp)
Teaserbild-Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Stiftung Luftbild Schweiz/ Friedli, Werner

Im vergangenen Mai fiel durch einen längeren Zeitungsartikel ein Schlaglicht auf die Aktivitäten des Berner Heimatschutzes (BHS). Mit verschiedenen Interventionen konnte er Änderungen stoppen oder rückgängig machen. Sie betrafen unterschiedliche Massnahmen und Massstäbe und zeigen exemplarisch die Breite von baudenkmalpflegerischen Anliegen. 

Tscharnergut-Siedlung

Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Stiftung Luftbild Schweiz/ Friedli, Werner

Das Tscharnergut im Westen Berns, hier in einer historischen Aufnahme von 1969, ist integral geschützt. Der Berner Heimatschutz wehrt sich gegen einen Ersatz einer Hochhausscheibe an der Fellerstrasse am unteren Rand der Überbauung.

Wie viel Heimatschutz braucht Bern?» – unter diesem Titel versammelte Autor Simon Wälti diverse aktuelle Interventionen des Berner Heimatschutzes. Der Artikel erschien Ende Mai 2022 im «Bund» und im «Thuner Tagblatt». Veranlasst hatte ihn ein Entscheid des Bundesverwaltungsgerichtes: Er hiess eine Anweisung des Bundesamtes für Verkehr gut, welche die Entfernung von vier dynamischen Abfahrtsanzeigen in Berns untere Altstadt verlangte. Die Anweisung war vom BHS veranlasst worden, gegen sie wehrte sich nicht nur Bernmobil, Betreiberin der städtischen öV, sondern auch Inclusion Handicap, der Dachverband der Behindertenorganisationen Schweiz.

Die Gegenüberstellung unterschiedlicher Anliegen und Interessen war in diesem Fall tatsächlich eine Geschichte, die auch für die breitere Allgemeinheit direkt nachvollziehbar war. Sie lenkte die Aufmerksamkeit des «Bund»-Autors auf andere Interventionen des BHS, die vielleicht weniger auffällig sind, aber ebenfalls spürbare Auswirkungen auf die Gestalt des öffentlichen Raums und das Schicksal von Menschen haben: etwa die Auseinandersetzung bei zwei Genossenschaftssiedlungen der Baugenossenschaft Fambau in der Stadt Bern oder die Verhinderung eines neuen Geländers am Thuner Aarequai. Ebenfalls erwähnt wurde im Artikel das Begraben des Projektes Westast der A5 in Biel, bei dem sich der Berner Heimatschutz mit anderen Protestierenden zusammenschloss.

Ist das nun mehr Heimatschutz als Bern braucht? Diese Frage lässt sich in einem Rechtsstaat nur langfristig auf politischer und gesetzgeberischer Ebene verbindlich mit einem «Ja» beantworten. Nämlich dadurch, indem man Schutzbestimmungen abschwächt. Solange sich dies nicht durchsetzen lässt, und dafür gibt es keine An-zeichen, kann man sagen: Bern hat genug Heimatschutz. Von selbst kommt dieser allerdings nicht. Es braucht engagierte Mitbürgerinnen und Mitbürger, die intervenieren. Und das tun sie unter anderem beim Berner Heimatschutz, wie die genannten Beispiele zeigen.

Wachsam und Wehrhaft

Auseinandersetzungen um Projekte und Massnahmen mit Heimatschutz-Argumenten sind nicht speziell «bernerisch». «Die Debatte ist eigentlich in allen Kantonen dieselbe», bestätigt Luc Mentha. Der Fürsprecher und SP-Grossrat ist Präsident des BHS. Seine Organisation setzt sich ein «für die Berner Baukultur», so lautet der Titel seines Onlineprofils. Grundsätzlich muss das heissen, dass der BHS über das wacht, was besteht. Wenn er von geplanten Änderungen erfährt, hat er zu entscheiden, ob er intervenieren soll. Ist dies der Fall, tritt er oft gegen Widersacherinnen und Widersacher an. Es können sich längere Rechtshändel entwickeln.

Überzeugend betont Luc Mentha im Gespräch, dass der BHS nicht Streit sucht. «Unsere Einsprachebefugnis in Baubewilligungsverfahren, mit der Möglichkeit, nachher noch Beschwerde zu machen, nutzen wir zurückhaltend», beteuert er, «in vielen Fällen können wir uns mit den Bauwilligen und den zuständigen Behörden einigen.»

Bernmobil Entfernung der Leuchttafeln

Quelle: Bernmobil

Mit diesem Foto teilte Bernmobil am 22. Juni 2022 über sein Facebook-Konto mit, dass die Untere Altstadt von Bern wieder «anzeigenfrei» sei. Die Leuchttafeln wurden auf gesetzliche Anweisung wieder entfernt.

Das Beschreiten des Rechtsweges muss sorgfältig abgewogen werden. «Wir machen vorgängig immer eine sehr sorgfältige Prozesschancenanalyse», erklärt Mentha. Deshalb sei die Erfolgsbilanz sehr gut. Diese Aussage untermauert der Präsident des BHS mit Zahlen. Den rund 20‘000 jährlichen Bauverfahren im Kanton stellt er für das Jahr 2021 700 Fachberichte des BHS zuhanden der Bauwilligen und der Baubewilligungsbehörden, 26 Einsprachen und 2 Baubeschwerden gegenüber. Wir haben alle Beschwerdeverfahren gewonnen», konstatiert Luc Mentha, «die Erfolgsbilanz 2022 wird ähnlich aussehen.»

Die vier umstrittenen dynamischen Abfahrtsanzeigen in Berns unterer Altstadt sind seit diesem Sommer wieder weg, nachdem der BHS um ihre Entfernung gekämpft hatte. Doch weshalb riskierte man wegen so kleinen Ergänzungen einen längeren, kräftezehrenden Streit? Schliesslich sind sie – ein wichtiger Punkt beim Denkmalschutz – reversibel, lassen sich also jederzeit ohne Schäden für die Bausubstanz abmontieren.

«Die Stadt hat diese Tafeln eigenmächtig, unter Missachtung ihrer eigenen Vorschriften angebracht», begründet Luc Mentha die Intervention, «für das UNESCO-Weltkulturerbe Altstadt Bern gelten strenge Regeln, so auch für Leuchtanzeigen. Für Ladenlokale ist es etwa nicht möglich, solche bewilligt zu erhalten.» Eine gesetzliche Grundlage, welche die Abfahrtsanzeigen für dringend und zwingend erachten, gibt es nicht. Deshalb konnte der BHS deren Bewilligung erfolgreich anfechten. Man habe konkrete Vorschläge für Alternativen gemacht, versichert Luc Mentha. Der BHS habe Gespräche mit Inclusion Handicap und der Stadt gesucht, doch die Stadt habe insistiert.

Mangelnde Sensibilität war auch der Anlass für die Beschwerde gegen ein neues Geländer am Thuner Aarequai. Auch hier war die Befugnis der ausführenden städtischen Behörde für diese Massnahme mangelhaft und anfechtbar. Der BHS nutzte den juristischen Spielraum aus. «Die städtische Exekutive hat in der Folge beschossen, das alte Geländer stehenzulassen», erzählt Luc Mentha, «es gab auch politischen Druck.» Somit rettete auch die Mobilisierung der Allgemeinheit das historisch wertvolle Geländer, dessen Ersetzung nach Auffassung des BHS-Präsidenten gar nicht nötig ist: «Man muss es nur entrosten und frisch streichen!»

Klimaschutz und Heimatschutz

Bei den beiden im «Bund»-Artikel erwähnten Projekten der Baugenossenschaft Fambau im Westen der Stadt Bern geht es um geplante Ersatzneubauten. Beim Ersatz einer Hochhausscheibe in der Grossüberbauung Tscharnergut aus den 1950er- und 1960er-Jahren hat der BHS Beschwerde gegen die Abbruchbewilligung des Statthalteramtes erhoben. «Unsere Beschwerde wurde von der Bau- und Verkehrsdirektion vom Kanton Bern gutgeheissen. Die Fambau zog den Fall weiter ans Verwaltungsgericht des Kantons Bern. Dort ist der Fall hängig», fasst Luc Mentha den aktuellen Stand zusammen.

Geländer Aarequai in Thun

Quelle: Interlaken Tourismus

Gegen den Ersatz des Geländers am Aarequai in Thun wehrte sich der Berner Heimatschutz erfolgreich.

Bei dieser Auseinandersetzung geht es nach seiner Aussage um verbindliche Vereinbarungen, welche die Kontrahentin, also Fambau, verletzen will. «Das Tscharnergut ist eine Ikone des modernen Städtebaus der Nachkriegszeit in der Schweiz», erklärt der BSH-Präsident die Sachlage, «die Stadt hat mit allen Bauträgern eine Planungsvereinbarung getroffen, dass man bestehende Bauten nicht abreisst, aber auf einer Seite um eine Raumschicht von drei Metern ergänzen kann. Diese Vereinbarung haben alle unterschrieben.»

Zwei der Scheibenhäuser hat man nach dieser Vereinbarung saniert. Eine der Bauträgerschaften ist mit dem Resultat sehr zufrieden. Die andere, die Fambau, kritisiert die Sanierung als unwirtschaftlich. Sie plant, ein weiteres Scheibenhaus abzureissen und durch ein Replikat zu ersetzen. Das will der BHS nicht akzeptieren.

Widerstand gegen einen Abriss regt sich auch bei der Fambau-Siedlung Meienegg. Sie ist ein ISOS-A-Objekt, ein Baudenkmal von nationaler Bedeutung. Der Heimatschutz hat sie auf die «Rote Liste» bedrohter Baudenkmäler gesetzt. Die Baugenossenschaft macht laut Luc Mentha durch ein Parteigutachten geltend, dass die Siedlung in einem derart schlechten Zustand sei, dass ein Totalabriss und Ersatzneubauten geboten seien. Bereits liegt ein Neubauprojekt aus einem Architekturwettbewerb vor. Der BHS bezweifelt die Sachlage. Das letzte Wort wird bei diesem Projekt das Volk haben: «Für die Neubebauung ist ein Planerlassverfahren notwendig», erklärt Luc Mentha, «das Projekt muss deshalb vors Volk.» Er hofft, dass andere Erneuerungsvarianten in Erwägung gezogen werden, die Ertüchtigung und den Ausbau von Bestandesbauten etwa, oder lediglich ein teilweiser Ersatz.

Im Fall Meienegg geht es auch um eine Verdichtung im Siedlungsgebiet, wie es das revidierte Raumplanungsgesetz verlangt. Die Neubauvorhaben, welche das auslöst, bereiten dem BHS oft Sorgen. Allerdings erkennt er auch Chancen und bemüht sich darum, vorbildliche realisierte Projekte besser bekannt zu machen. Luc Mentha denkt, die innere Verdichtung sei mit Anliegen des Heimatschutzes schon vereinbar ist.

«Man muss es mit ‹Gspüri›, Respekt vor dem Baudenkmal und mit Sorgfalt für das Ortsbild machen», fügt er an. Grosse Unterstützung für die Anliegen des Heimatschutzes bietet zunehmend der Klimaschutz – konkret die Diskussion rund um die Graue Energie, also jene Energie, die beim Abriss und bei Neubauten aufgewendet werden muss. Vermehrt setzt sich die Einsicht durch, dass der Erhalt des Bestandes langfristig zu einer besseren Klimabilanz führt als Ersatzneubauten. «Das Thema beschäftigt uns sehr», bestätigt Luc Mentha, «wir bereiten eine Tagung vor, die wir im nächsten Jahr durchführen möchten: Klimaschutz und Heimatschutz.» Der BHS beteiligt sich auch an der Klimaoffensive Baukultur (www.klimaoffensive.ch), welche gute energetische Sanierungen sammelt und detailliert dokumentiert.

Die Ausführungen des BHS-Präsidenten legen nahe, dass Medienberichte über Streitfälle das Bild seiner Vereinigung etwas verzerren. Es wird ausserhalb des Rampenlichts auch viel Vermittlungs- und Beratungsarbeit geleistet. «Regelmässig erhalten wir auch Meldungen über Abrissvorhaben, bei denen wir nach einem Augenschein unserer Bauberatung ein Engagement ablehnen müssen», präzisiert Luc Mentha, «das löst mitunter auch geharnischte Reaktionen aus.» Mit Veranstaltungen bemüht sich der BHS darum, darzulegen, wo die Grenze zwischen erhaltenswertem Kulturgut und Nostalgie liegt. Der BHS nimmt für sich in Anspruch, das Gleichgewicht zwischen Erhalten und Gestalten zu suchen. Diese schwierige Aufgabe wird ihn stetig beschäftigen. 

Geschrieben von

Freier Mitarbeiter für das Baublatt.

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