Baumschutzprojekt: Ein Garten für einen Baumriesen
Einen alten Baum an einem viel begangenen Ort bis zu seiner natürlichen Zersetzung stehen zu lassen, dabei seine nächste Umgebung mit einzubeziehen und zugleich die Sicherheit zu gewährleisten: Dieser neue Ansatz wird bei einem Birnbaum am Zürichsee umgesetzt.

Quelle: Michel Brunner
Im Herbst hebt sich Baum und Garten farblich vom Spinatgrün des Rasens deutlich ab.
Was wie die Beschreibung eines antiken Tempels tönt, bezieht sich in Wahrheit auf die Architektur eines Baums: «Auf steinigem Fundament mit breiter Basis, steht ein gerader Schaft, dessen Fassade zwar teils bröckelt, nichtsdestotrotz sich aber immer noch ein kräftiges Tragwerk mit typischer Architektur zeigt». Beschrieben wird hier ein uralter, bedeutender Birnbaum, der in Herrliberg an der Zürcher Goldküste steht.
Er steht zugleich im Zentrum eines ungewöhnliches Baumschutzprojekts, denn anders als in bewohnter Umgebung üblich, wird der Baum-Methusalem nicht aus Sicherheitsgründen gefällt, sondern darf langsam zerfallen: Ein eingefriedeter naturnaher Garten rundherum soll diesen Vorgang erlebbar machen und zugleich aufzeigen, wie ein zukunftstauglicher Umgang mit einem ehrwürdigen Baum aussehen kann - und dabei gleichzeitig Mensch, Tier und Pflanze schützt.

Quelle: Michel Brunner
Kurz nach den Frühblühern wie z.B den Tulpen erblühen im April Beinwell und Flockenblumen.
Objekte der Verehrung
Es kommt nicht von ungefähr, dass Analogien zwischen Gebäuden und Bäumen bestehen. Waren Bäume doch, lange bevor der Mensch grössere Bauten errichtete, nebst Felsen und Gebirge die monumentalsten Objekte in einer Landschaft. Auf und unter ihnen fand man Schutz und Geborgenheit. Sie dienten uns als Nahrungsquelle, sind bis heute wichtiger Sauerstofflieferant und ihr Holz ist Rohstoff für allerlei Produkte.
Besonders grosse und alte Bäume wurden von unseren Ahnen verehrt und man zollte ihnen grossen Respekt. Dieser ist in unserer schnelllebigen Zeit vielerorts verloren gegangen. Der Baum ist längst zu einem Gegenstand degradiert, der ersetzbar geworden ist. Dabei sind alte, hohle Bäume, insbesondere weil sie so selten geworden sind, für viele Tiere unglaublich wertvoll geworden.

Quelle: Michel Brunner
Im Wonnemonat Mai erstrahlt der Garten wie ein klarer Himmel in neuem Glanz.
1808 gepflanzt
Stattliche Obstbäume, wie jener in Herrliberg der bereits 1808 gepflanzt wurde, sind vom Verschwinden besonders betroffen. Als Wirtschaftsbäume schlagen sie die Brücke zwischen Natur und Kultur und stehen auf teurem Bauland in unserer stetig wachsenden Zivilisation oft im Wege. Vor vielen Jahren sollte auch die Birne im Schulhausareal Rebacker weichen. Zu alt und krank wäre sie, hiess es damals.
Zum Glück hat sich die Gemeinde eines Besseren belehren lassen, so dass der alte Baum nach einer gründlichen Baumpflege noch heute nicht nur von Schüler- und Lehrerschaft bewundert werden kann. Zwar nimmt die Vitalität der Birne seit kürzester Zeit allmählich ab, ein simples Erhaltungskonzept sichert das Leben des Baumes aber so lange wie nötig, um ihn in Ehren sterben zu lassen. Denn was uns tot erscheint, ist in Wirklichkeit voller Leben und beschreibt nur den natürlichen Kreislauf der Natur in dem sich Werden und Vergehen die Waage halten.

Quelle: Michel Brunner
Steinhaufen und Stammäste des Birnbaumes dienen Eidechsen und Wildbienen als Unterschlupf.
Altersvielfalt
Der frappante Rückgang der Artenvielfalt ist zu einem grundlegenden Thema unserer Zeit geworden. Die fehlende Altersvielfalt hingegen, wird kaum jemals berücksichtigt. Für einen Baum ist es heutzutage aber alles andere als selbstverständlich, dass er eines natürlichen Todes sterben darf. Die meisten Bäume erreichen nicht einmal annähernd ihre natürliche Altersgrenze und werden aus Gründen wie Sicherheit, Wirtschaftlichkeit oder einem übertriebenen Ordnungswahn gefällt. Deshalb ist auch das Wachstumspotential bei praktisch allen Gehölzarten unbekannt. Oder haben sie gewusst, dass es beispielsweise Birnbäume gab, die einen Stammumfang von über sieben Metern hatten, bei einem geschätzten Alter von rund 500 Jahren?
Die meisten ausgewachsenen Bäume, die wir kennen sind Teenager. Und die Tendenz ist steigend, dass Bäume im Siedlungsraum dünner sind wie Menschen. Wo findet man heute noch Baumriesen, die zum Grossteil aus Totholz bestehen, deren Stammteile ausgebrochen sind und grosse Hohlräume als Lebensraum für Tiere aufweisen? Liegt ein Baum am Boden, wird er üblicherweise entsorgt. Denn auch die Landschaft gehört aufgeräumt!

Quelle: Michel Brunner
Bereits im Mai sind die Pflanzen üppig gediehen und schützen den Boden vor Erosion und Hitze.
Pufferzone geschaffen
Aus Sicherheitsgründen kann man aber an einer frequentierten Stelle einen maroden Baum nicht einfach sich selbst überlassen. Ein Baum ist nichts Statisches. Um der Sicherheit nebst einer regelmässigen Baumpflege zusätzlich entgegenzuwirken, entstand deshalb die Idee, rund um die Birne in Herrliberg eine naturnahe Grüngestaltung anzulegen, und damit eine Pufferzone gegen die Gefahr von herabfallenden Ästen zu schaffen. Damit wurde auch das Problem des faulenden Fallobstes minimiert, welches viele Wespen anlockt, deren Stiche unangenehm ausgehen können.
Mit dem Schutz für uns Menschen, profitiert aber auch der Baum selbst. Denn die nun vor Tritten bewahrte Baumscheibe, vereitelt die Bodenverdichtung und hilft den Wurzeln durch das eingebrachte lockere Substrat und die gezielte Bepflanzung mit der nötigen Wasser-, Nährstoff- und Sauerstoffaufnahme.

Quelle: Michel Brunner
Aufwachsende Flora zwischen Teich, Igelbau und Baumriese.
Artenvielfalt
Im eingezäunten Bereich finden viele Tier- und Pflanzenarten ein geschütztes Refugium. Vor allem Wildbienen, die auf offenem Boden nisten – was rund 60 Prozent aller Arten betrifft – können sich hier ansiedeln. Es finden sich Sandlinsen, Steinhaufen für Eidechsen, Asthaufen für Igel, Vögel und Kröten und eine Feuchtzone mit einem Teich aus Lehm fördert Frösche, Molche, Salamander, Wasserschnecken, Libellen und vielem mehr. Nebst den heimischen Arten wurden hier im Siedlungsraum aber auch Pflanzen dazugesetzt, die beispielsweise wegen der langen Blütezeit oder wegen ihrer Eignung als Futterpflanze für Vögel und Insekten besonders wertvoll sind.
Die Kombination dieser Naturgarten, Perma- und Mischkultur soll auch eher verhaltene Naturgarten-Begeisterte inspirieren und zeigen, dass man ein Gartenparadies erschaffen kann, dass allen Bewohnern eines Gartens Freude bereitet. Dank der Vielseitigkeit gibt es im Vergleich zu einem monotonen Rasen immer etwas zu entdecken. Ausserdem entfällt das Rasenmähen und die damit verbundenen Lärm- und Luftemissionen. Sogar auf Laubbläser und -rechen kann verzichtet werden, da Laub schluckende Pflanzen dieses in sich aufnehmen. So kommt auch der daraus zurückgewonnene Nährstoff dem Baum und den Pflanzen letztlich wieder zugute. Versinnbildlicht geht in der Natur nichts verloren, alles wandelt sich und wird recycliert.
* Zur Person
Michel Brunner gründete 1997 das «Bauminventar Schweiz – pro arbore» und archivierte über 5000 alte Bäume in Europa. Er schrieb Bücher darüber, hielt Vorträge und setzt sich seit 30 Jahren aktiv für Baumriesen ein. In Herrliberg hat er 2023/24 am Breitiweg beim Primarschulhaus Rebacker eine nachhaltige Grünfläche konzipiert und umgesetzt und so zusammen mit dem Verkehrs- und Verschönerungsverein Herrliberg einer der letzten alten Birnbäume der Schweiz vor dem Fällen bewahrt.