08:58 BAUBRANCHE

Industrieareale an der Glatt, Teil 2: Von der Ruine zum Rechenzentrum

Geschrieben von: Manuel Pestalozzi (mp)
Teaserbild-Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv

Die Wasserkraft des kleinen Flusses Glatt wurde zuerst von Mühlen genutzt, dann von Textilfabriken, die alle ihren Betrieb einstellten. Spuren der industriellen Vergangenheit sind an der Glatt bis heute anzutreffen. Manche Areale wurden zu kleinen Quartieren ausgebaut, sowohl an der Peripherie von Zürich wie auch am unteren Flusslauf, von dem dieser Bericht handelt.

Ruine von Jakobstal bei Bülach

Quelle: Manuel Pestalozzi

Die Ruine von Jakobstal bei Bülach ist heute überwuchert und gut gesichert.

Alte Industrieareale sind, ähnlich wie einst Bahnhöfe, städtebauliche Pioniertaten. Von ihrer Lage möchten auch Menschen profitieren, welche nicht direkt in Verbindung stehen mit dem ursprünglichen Nutzungszweck. Das hat oft bauliche Konsequenzen: Die Bedeutung dieses Nutzungszwecks lässt meistens irgendwann nach; manchmal geht sie ganz verloren, da sich die Die Ansprüche verändern. An der Glatt folgten die Industrieareale oft auf Mühlen, welche sich die Wasserkraft zu Nutzen machten. Diverse Kleinkraftwerke wurden in Betrieb genommen, die teilweise bis heute Strom produzieren.

Mit dem Niedergang der Textilindustrie ging aber die Stilllegung fast aller Fabriken entlang der Glatt einher. Manche Areale wurden in der Folge umgenutzt, manchmal auch im grossen Stil erweitert. Besonders attraktiv war eine solche Umnutzung an der Peripherie von Zürich, an der die Glatt tangential vorbeiführt. Doch auch am Unterlauf mussten die Anlagen nach einer neuen Funktion suchen, was nicht immer glatt verlief.

Der Verlust vom Jakobstal

Der erste Artikel über die Industrieanlagen an der Glatt (siehe Baublatt 19/2025) endete unterhalb der Herzogenmühle, an der Grenze von Wallisellen zu Zürich-Schwamendingen. Der Seitenarm, an dem die historische Industrieanlage liegt, verschwindet in einem Schlitz. Er unterquert erst die Autobahn A1 und vereinigt sich bei der historischen Aubrücke und dem Heizkraftwerk Aubrugg wieder mit dem Hauptarm.

Anschliessend führt der Fluss an Moorlandschaften vorbei: dem Oberhauserriet, einst «teuerste Wiese Europas», heute Neubauquartier Opfikon-Glattpark, dem grossen Ried, heute Flughafen Zürich, und dem Neeracher Ried, heute «BirdLife-Naturzentrum». Dann nähert sich der Fluss nähert der westlichen Peripherie der Stadt Bülach. In der lieblichen Landschaft lassen sich Konturen einer Ruinenanlage aufmachen: ein Transformatorenhäuschen, eine grosse Giebelwand, ein bröckelnder Hochkamin. Sie künden vom Schicksal der Spinnerei Jakobstal, deren Name Jakobstal auf einen früheren Besitzer zurückgehen soll.

Spinnerei Jakobstal

Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv

Die kompakte Gebäudegruppe der Spinnerei Jakobstal wurde zum «Lost Place» und ist nicht mehr zu retten.

Spinnerei Jakobstal

Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv

Die Spinnerei Jakobstal wurde von einem Kanal mit Wasserkraft versorgt, der um 1980 zugeschüttet wurde. Wenige Jahre zuvor fotografierte ihn der Industriearchäologe Hans-Peter Bärtschi.

Die Anfänge der Ringspinnerei gehen auf die 1860er Jahre zurück, als ein System von Fabrikkanälen graben und die Spinnereigebäude errichtet wurden. Bis 1982 wurde hier Baumwolle gesponnen, bevor sich der Betrieb wegen der billigeren ausländischen Konkurrenz nicht mehr rentierte. Die Erschliessung des Tales hatte sich bis dahin markant verbessert: Ende der 1960er-Jahre erreichte die Verlängerung der Flughafenautobahn Bülach. Seither liegt das Jakobstal unmittelbar neben die Zufahrt «Bülach West». Diese Aufwertung des Standorts hätte eigentlich eine gedeihliche Zukunft versprechen müssen. Leider kam es anders.

Denkmalschutz verhindert Umnutzung

Das Trauerspiel begann gleich nach der Stilllegung: Ein lokaler Bauplaner und -investor erwarb das Areal, um es umzunutzen. Dem Investor schwebten verschiedene Möglichkeiten wie ein Schul- und Konferenzzentrum oder eine Badelandschaft mit Fitnesseinrichtungen vor. Doch 1986 wurden das Spinnereigebäude, das Turbinenhaus mit Maschinenpark sowie das Baumwollmagazin vom Kanton ins Inventar der Schutzobjekte von regionaler und kantonaler Bedeutung aufgenommen. Dadurch wurden ein Rückbau sowie viele Baupläne unmöglich, da die Substanz des Ensembles beeinträchtigt worden wäre.

Der Kanton stellte die Fabrikanlage unter Schutz. Letztere bröckelte in der Folge vor sich hin und das Jakobstal verkam zu einem von der Vegetation überwucherten «Lost Place», der auch im Internet Spuren hinterlassen hat. Historisch Interessierte mit ausreichend Wagemut fotografierten die historischen Textilmaschinen, die vor sich hin moderten.

Das üppige Grün bringt das Jakobstal im Sommer fast zum Verschwinden

Quelle: Manuel Pestalozzi

Das üppige Grün bringt das Jakobstal im Sommer fast zum Verschwinden.

Bis heute überragt die Spinnerei das Dorf Glattfelden

Quelle: Manuel Pestalozzi

Bis heute überragt die Spinnerei das Dorf Glattfelden.

Rechtsstreit bis vor Bundesgericht

Andere gingen mit dem leerstehenden Areal weniger zimperlich um: 1995 brannte der Dachstuhl des Spinnereihauptgebäudes nieder. Wiederholt musste die Feuerwehr ausrücken. 2003 hob der Kanton die Schutzverfügung über die ehemalige Spinnerei auf. Es gab Rechtshändel, und 2010 musste sich sogar das Bundesgericht mit dem Jakobstal befassen. In einem NZZ-Artikel von 2012 war von einer Studie die Rede, worin verschiedene Nutzer als «ideale Kandidaten» für das Jakobstal genannt wurden: ein Gewerbepark, ein Grossverteiler, ein Fachmarkt, eine Fachklinik, ein Technopark oder gar eine Filiale der ETH Hönggerberg. Eine Wohnnutzung käme wegen des Fluglärms nicht infrage, hiess es damals. 2023 gab es erneut Rechtsstreitigkeiten, dieses Mal wegen dem Wald, der in den letzten Jahrzehnten um die Ruinen gewachsen war. Er war ohne Bewilligung gerodet worden.

Mit der Aufhebung des Denkmalschutzes muss die ganze Anlage als verloren gelten. Der Verdacht drängt sich auf, dass der Schutz zu rigide angewendet wurde und damit zur Vernachlässigung der Bausubstanz wesentlich beigetragen hat. Heute ist das Gelände gut gesichert und nicht mehr betretbar. Der Wanderweg entlang des linken Ufers der Glatt wird mit einer neuen Treppe um den «Vernachlässigungswald» geleitet. Es bleibt die Fernwirkung der Ruine. Sie macht traurig. Die Wirtschaftsförderung der Stadt Bülach führt das Jakobstal auf seiner Website unter den zur Verfügung stehenden Arealen. Es bestehe dort die Möglichkeit, zusammen mit den Grundeigentümern, der Stadt Bülach sowie der Nachbargemeinde Hochfelden ein Areal mit einer Fläche von 40 000 Quadratmeter als Arbeitsplatzgebiet zu entwickeln. Der Standort verfüge gemeindeübergreifend mit Hochfelden über grosse Nutzungsreserven. Ein Tages-Anzeiger-Artikel lässt allerdings Zweifel aufkommen, ob dieses Potenzial ohne weiteres genutzt werden kann. Der Kanton habe das Grundstück im Rahmen der Überprüfung der Kleinsiedlungen der provisorischen Landwirtschaftszone zugeteilt, in der grundsätzlich ein Bauverbot gilt.

Eine Abbildung von 1900 zeigt Glattfelden mit der Spinnerei im Hintergrund und der komplexen Kanalanlage

Quelle: Genossenschaft Licht- und Kraftwerk Glattfelden

Die Abbildung aus dem Jahr 1900 zeigt Glattfelden mit der Spinnerei im Hintergrund und der komplexen Kanalanlage, die heute nicht mehr existiert, im Vordergrund.

Gottfried Kellers Heimat 

Nach dem Jakobstal durchquert die Glatt Hügelland. Zwischen bewaldeten Hängen bahnt sich der Fluss in engen Schlaufen seinen Weg, bis sich das Tal bei Glattfelden wieder öffnet. So wie in vielen Gemeinden entlang der Glatt befindet sich auch hier das historische Siedlungsgebiet in einiger Distanz zum Fluss. Vor den Korrekturen des Laufs richtete er regelmässig grosse Schäden an. Der Schriftsteller Gottfried Keller (1819 – 1890), dessen Familie aus Glattfelden stammt, erzählte in seinem Bildungsroman «Der grüne Heinrich» vom Schwellenbau der Bauern, die ihr Land vor der Wut des Wassers so gut es ging schützen mussten.

Mühlen und Textilfabriken – das gab es auch in Glattfelden zwischen dem Ortskern und dem Fluss. Die fünfgeschossige Spinnerei, die quer zu einem der verschiedenen Kanäle gestellt wurde, war das weitaus grösste Gebäude des Dorfs. Mit seinem rauchenden Kamin schmückte es Postkarten. Die Spinnerei war bis 1983 in Betrieb und wurde anschliessend als Lagerstätte genutzt – bis jemand auf die Idee kam, zwei der Hallen als Filmstudio zu nutzen. 1999 wurden sie filmtauglich umgebaut, gemäss einem Wikipedia-Beitrag wählte man sie aus, da sie gross und stützenfrei waren und das Gebäude in einer Umgebung mit wenig Lärmbelastung lag.

«Big Brother» in Glattfelden

Bis 2007 befanden sich somit die grössten Filmstudios der Schweiz an der Glatt. Die TV-Soap «Lüthi und Blanc» ging hier über die Bühne, und im Gelände wurde ein «Big Brother»-Container aufgestellt, also eine televisuale Voyeur-Box. Irgendwann gingen «Hollyglatt» die finanziellen Mittel aus: Der historische Spinnereibau erhielt Balkone und beherbergte fortan 28 Wohnungen. In seinem westlichen Vorfeld entstanden bis 2013 88 Eigentums- und Mietwohnungen in Ersatzneubauten. Die bis zu dreigeschossigen Volumen sammeln sich wie Küken um die Glucke unter der massigen, deutlich höheren Fabrik, die einen Kamin behalten durfte. Die herausragende, eigentlich ortsfremde Präsenz des Grossbaus im Dorf ist erhalten geblieben, auch wenn seine industrielle Vergangenheit heute vielleicht nicht auf den ersten Blick bemerkbar ist.

Spinnerei Jakobstal

Quelle: Manuel Pestalozzi

Das «Riverside» zollt der industriellen Vergangenheit der Anlage Respekt.

Unterirdische Mündung in den Rhein

Rund zweieinhalb Kilometer nordwestlich von Glattfelden mündet die Glatt hinter einem bewaldeten Geländeeinschnitt in den Rhein. Auf ihren allerletzten Metern bringt sie eine weitere Wasserbaumassnahme nochmals zum Verschwinden: Bei einer Flusskorrektur im 19. Jahrhundert grub man für den Fluss vor der letzten, engen Schlaufe zwecks Hochwasserschutz einen Stollen. Beim Bau des 1920 eröffneten Kraftwerks Eglisau-Glattfelden blieb dieser Stollen erhalten. Die Glatt wird seither ins Unterwasser westlich des Turbinengebäudes eingeleitet. Der kleine und doch wichtige Fluss verschwindet am Ende im Nichts.

Beim Eingang des Geländeeinschnitts wurde 1865 am rechten Ufer die Garnspinnerei Letten fertiggestellt. Sie war ans Kanalsystem von Glattfelden angeschlossen, liegt aber näher bei der Bahnstation von Zweidlen und ist für den motorisierten Verkehr nur aus dieser Richtung, von Westen her, über eine Brücke erreichbar. In den 1970er-Jahren entstand in unmittelbarer Nähe der hohe Betonviadukt der Umfahrung Glattfelden, auch bekannt als Autobahn A51. Die Spinnerei stellte 2006 die Produktion ein.

Aus Letten wurde «Riverside»

Die Anlage hatte das Glück, dass ein innovativer Investor ein Auge auf sie geworfen hatte: Hans-Ulrich Lehmann ist Mobilfunk-Unternehmer und unter anderem Mitbegründer von Mobilezone. Er hat nach Medienberichten in einem ersten Schritt 80 Millionen Franken in ein ambitiöses Umnutzungs- und Erweiterungs-Projekt investiert, das aus dem Letten in einer wirklich kurzen Entwicklungs- und Bauzeit bis 2009 ein «Riverside» machte. Lehmann war überzeugt, dass die «einzigartige, idyllische Umgebung» um die ehemalige Spinnerei ein grosses Potenzial für einen Business- und Freizeitkomplex besitzt. Wesentliche Teile der Anlage blieben bestehen und wurden mit An- und Einbauten ergänzt, die auch der Tageslichtoptimierung dienen. 2016 folgte stromaufwärts die Eröffnung des freistehenden, gut in die Anlage eingepassten Hotelerweiterungsbaus «Riverlodge» mit 52 Zimmern.

Heute bietet die «Riverside»-Anlage auf über 12 000 Quadratmetern ein Viersterne-Hotel mit 96 Zimmern, drei verschiedene Restaurants, eine hauseigene Bowling-Anlage mit zehn Bahnen, einen grosszügigen Gewerbeteil auf drei Stockwerken, ein Autoatelier mit exklusiven Fahrzeugen sowie 26 Räume für Meetings und Events. Flussabwärts, am uferbegleitenden Veloweg, schliesst ein kleiner Skulpturenpark des Holzbildhauers und Komikers Stefan Schmidlin an. Dahinter entsteht aktuell ein weiterer Neubau mit dem Projektnamen «Rivertrade», der am Schutzzaun als nüchterner, schrankartiger Zweckbau präsentiert wird.

Gegenüber vom «Riverside» ist ein Datencenter entstanden

Quelle: Manuel Pestalozzi

Gegenüber vom «Riverside» ist ein Datencenter entstanden. Es soll seinen Nachbarn mit Abwärme versorgen.

Energieeffizientes Datencenter

Gegenüber vom «Riverside» nähert sich gerade ein festungsartiger, mit einem Zaun geschützten Neubau seiner Fertigstellung. Es handelt sich um das Datencenter «ZRH2» des amerikanischen Konzerns Vantage. Gemäss der Branchenplattform Netzwoche soll der «Campus» branchenführende Stromverbrauchseffizienz und Wassernutzungseffizienz aufweisen. Luft- und Wasser-Wärmepumpen wandeln die Abwärme um, die zur Klimatisierung von Verwaltungsräumen und Verringerung des Energieverbrauchs dient. «ZRH2» soll auch Abwärme ans «Riverside» liefern.

Mit diesem Neubau schliesst sich gewissermassen der Kreis bei der Betrachtung der industriellen Geschichte dieses Flussraums. Er zeigt, dass die Glatt für die Wirtschaft auch jenseits des Wohnens und des Freizeitbetriebs immer noch attraktiv ist. Flüsse überdauern Epochen – man kann sie schliesslich nicht einfach abschalten.

Geschrieben von

Freier Mitarbeiter für das Baublatt.

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