Obertor in Winterthur: Wiederbelebung der Altstadt
Historische Stadtzentren bereiten den Verantwortlichen vielerorts Kopfschmerzen. Jenseits romantischer Gesamtansichten haben sie oft verschiedene technische und soziale Knacknüsse auf Lager. Beim Obertor in Winterthur sucht man die Lösung für eine Aufwertung und Wiederbelebung mit der Zielvorstellung «Oase». Das anregende Projekt ging aus einem Studienauftrag hervor.

Quelle: Skop Architektur & Städtebau
Die ausgedehnte Hofsituation mit den beiden umgenutzten Liegenschaften soll sich in eine «Oase» verwandeln.
Die Altstadt von Winterthur liegt in einem von Hügeln umgebenen Talgrund. Ihre Hauptverkehrsachse verläuft in der Talrichtung von Westen nach Osten. Sie war einst ein «innerstädtischer» Abschnitt der Landstrasse von Zürich in den Bodenseeraum. Zuerst heisst sie Untertor, anschliessend Marktgasse, dann Obertor. Die namensgebenden Stadttore an den beiden Enden wurden im 19. Jahrhundert abgerissen, ansonsten ist die Altstadt in ihrer Struktur weitestgehend intakt. Nach wie vor zeichnet sie sich aus durch kleinteilig parzellierte Strukturen.
Mit der Entwicklung des neuen Ortsteils «Stadtmitte» auf dem ehemaligen Sulzerareal, jenseits des Bahnhofs und seiner Gleise, und einer baulichen Verdichtung am Bahnhofsplatz entwickelten sich in den letzten Jahren die Kräfteverhältnisse zugunsten der Quartiere westlich der Altstadt. Damit sich der historische Stadtkern gegenüber der Nachbarschaft behaupten kann, gab die Stadt 2011 die Studie «Nutzungsstruktur Altstadt» in Auftrag. Sie zeigte unter anderem, dass der östliche Teil wenig belebt ist.
Dort besitzt die Stadt diverse Liegenschaften. Mit der Aussicht, dass deren verwaltungsinternen Nutzungen ausgelagert werden, wurde damals im Auftrag der Stadt ein Testplanungsverfahren durchgeführt. Von ihm erwartete die Stadt Aufschluss darüber, wie sich das Gebiet «ObertorPlus» besser in die Altstadt einbinden lässt.

Quelle: Marianne Huber
Die beiden Liegenschaften wurden lange von der Polizei genutzt.
Die Zukunft einer Hofsituation
Der Perimeter von «ObertorPlus» umfasste Parzellen beidseits der Achse Obertor. Darunter sind Liegenschaften in einer hofartigen Situation südlich der Achse. Der verwinkelte Hof wird von ihr über eine schmale Gasse erreicht, er ist zudem über weitere mehr oder weniger enge Passagen und Zugänge erschlossen. An diesem verwinkelten Freiraum lagen Räumlichkeiten und Garagen der Stadtpolizei Winterthur, deren Zentrale in einem Haus am Obertor einquartiert war. Zur Zeit der Testplanung war bekannt, dass die Polizei umziehen und das Quartier verlassen wird.
Die Frage nach der Zukunft der Hofsituation war daher ein zentrales Anliegen des Projekts «ObertorPlus», für das man sich Vorschläge erhoffte. Die beteiligten Teams schlugen vor, den «ehemaligen Polizeihof» als Hofbereich grundsätzlich zu respektieren. Sie empfahlen, ihn nicht zu einem Gassenraum oder Platz zu entwickeln, sondern als halbprivaten Rückzugsbereich zu behandeln. Ein Resultat der Testplanung war für die Stadt die Erkenntnis, dass eine Entwicklung des Gebiets Obertor eine Chance darstellt, die Altstadt ohne massiven Stadtumbau nachhaltig zu stärken.Zu «ObertorPlus» gehören unter anderem die zwei zusammengebauten, direkt mit den Häuserzeilen an den Gassen verbundenen Hofliegenschaften Obertor 15 und 17a, die von der Polizei genutzt wurden. Sie ragen von Osten her mit abnehmender Höhe in den Hofraum hinein. Die Stadt schrieb das zwei- und dreigeschossige Haus mit seinen grossen Dachräumen im Baurecht aus.

Quelle: Skop Architektur & Städtebau
Das Umbauprojekt sieht den Hof nicht primär als Durchgangs-, sondern als Grünzone mit hoher Aufenthaltsqualität. Die Liegenschaften sind im Plan durch die eingezeichneten Dachflächen erkennbar.
Die Gesewo, Genossenschaft für selbstverwaltetes Wohnen, Winterthur, erhielt den Zuschlag. «Wir verstehen den Hofraum als eine Oase inmitten der dichten, trubeligen umliegenden Altstadt», schrieb die Genossenschaft einleitend in ihrer Bewerbung und machte damit klar, dass ihr eine Altstadtaufwertung sehr wichtig ist. Sie bekundete die Absicht, ihren Beitrag dazu zu leisten, um den Hofraum in einen «Platz des Verweilens, der Geborgenheit und des Durchatmens» zu verwandeln. Für die Bewerbung liess die Genossenschaft durch das Büro Skop Architektur & Städtebau Zürich eine Machbarkeitsstudie erstellen. Sie zeigte auf, dass das Hauspaar für bis zu dreissig Personen Wohn- und Arbeitsraum bieten kann: circa 290 m2 Gewerbe, Dienstleistung und Gemeinschaft im Erdgeschoss, circa acht Wohnungen in den Obergeschossen.
Das Team von Skop zählt die beiden Liegenschaften in seiner Ortsanalyse zu den Wirtschaftsgebäuden der an der Achse Obertor gelegenen Wohn- und Geschäftshäuser, die über die Zeit eine autonome Nutzung und eine eigenständige Entwicklung erfuhren. Es handelt sich um eigentliche Zweckbauten; ihre Architektur ist zurückhaltend, pragmatisch und darauf ausgelegt viele Nutzungen zuzulassen. «Durch ihre zentrale Lage, die gute Sichtbarkeit von der Hauptgasse [Obertor, Anm. d. Red.] und dank der zukünftigen Aussenraumaufwertung des Hofbereichs bieten sie grosses Potenzial für urbanes Wohnen, eine Publikumsnutzung im Erdgeschoss und damit einhergehende Belebung des Innenhofs zur eigentlichen Stadtoase», schrieb Skop in der Analyse zu den beiden Liegenschaften.
Behutsame Eingriffe
Mit der erfolgreichen Baurechtsbewerbung war für die weitere Entwicklung des Projekts das Thema «Oase» gesetzt. Als Pfad zum realisierbaren Projekt wählte die Gesewo einen nicht-anonymen, einstufigen Studienauftrag auf Einladung mit drei Büros. Ausgehend von den Zielsetzungen, die in der Bewerbung festgehalten waren, liessen sich die Rahmenbedingungen formulieren. Zu Ihnen gehörten die Selbstverwaltung der Liegenschaften mittels eines Hausvereins, die Berücksichtigung neuer, zeitgemässer Wohnformen und der Vielfalt der Gesellschaft, ausserdem der sorgsame Umgang mit dem Bestand, der dem Ortsbildschutz unterliegt, und die Minimierung des Ressourcenverbrauchs. Die Gesewo möchte die Räumlichkeiten gemäss Kostenmiete und unter Marktniveau anbieten können. Volumetrische Veränderungen waren nach Absprache mit der städtischen Denkmalpflege mit Ausnahme von kleineren Dachaufbauten und gewissen Balkonen nicht möglich.
Unter den drei beteiligten Büros war auch Skop, welches die Machbarkeitsstudie erstellt hatte. Es konnte mit seinem Vorschlag das Verfahren für sich entscheiden. Das Beurteilungsgremium entschied sich einstimmig, dieses zum Siegerprojekt zu bestimmen und es der Bauträgerin zur Weiterbearbeitung zu empfehlen. Sein Konzept orientiert sich nach Aussage des Entwurfsteams eng an der Baugeschichte und möchte die städtebaulichen sowie architektonischen Qualitäten der Liegenschaften als identitätsstiftende Elemente erhalten. So sind die Eingriffe in die Baustruktur und die Fassaden sehr zurückhaltend. Obwohl die beiden Liegenschaften als Einheit gesehen werden, bleibt die Erschliessung über zwei separate Treppenaufgänge erhalten.

Quelle: Skop Architektur & Städtebau
Das Äussere der beiden Häuser soll nur geringfügig verändert werden. Am auffälligsten sind die neuen Lukarnen in den Schrägdächern.
Der Entwurf verzichtet – so wie auch die Konkurrenzprojekte – auf den Einbau eines Lifts. Das Erdgeschoss wird aber, wie von der Auftraggeberin gewünscht, auf Hofniveau barrierefrei gemacht. Quer von Nord nach Süd durch die Volumen verlaufende Korridore mit den Treppen teilen diese halböffentliche Zone in einen Gewerbe- / Ladenraum, ein nach Norden, zum Obertor orientiertes Atelier, hinter dem die Waschküche angeordnet ist, und in den «Salon Obertor». Letzterer soll die Funktionen Mittagstisch, Geburtstagsfest, Versammlung, Lesung, Konzert aufnehmen können. Die Ansässigen und die Bevölkerung der Stadt sollen an diesem Ort zusammenfinden und interagieren können.
Im ersten Obergeschoss sieht das Siegerprojekt vier Geschosswohnungen unterschiedlichen Zuschnitts vor. Im Bauteil Obertor 15 liegen eine Viereinhalb- und eine Dreizimmerwohnung Rücken an Rücken. Die beiden Wohnungen in der Nachbarliegenschaft haben Anteil an der Nord- und der Südfassade. Im zweiten Obergeschoss wiederholt sich im Obertor 15 die Anordnung. Im Obertor 17a befindet man sich auf diesem Niveau bereits im Dachstuhl.
Das Entwurfsteam schlägt hier eine Galeriewohnung vor, die sich über eine Gesamtfläche von 129 Quadratmetern erstreckt. Der Galerieteil unter dem First des Walmdachs befindet sich über dem Entree und erlaubt einen Blick hinab in die Wohnzone. Tageslicht erhält die Wohnung über neue Lukarnen und Dachflächenfenster. Auch der Dachraum von Obertor 15 wird genutzt für eine grosszügige Wohnung mit einer Fläche von 110 Quadratmetern. Auch dieses Dach soll mit Lukarnen und einer Balkonterrasse ergänzt werden. Das Entwurfsteam kann sich in dieser Wohnung eine Wohngemeinschaft oder eine Patchwork-Familie vorstellen.

Quelle: Skop Architektur & Städtebau
Die Schnitte durch die beiden Liegenschaften zeigen, wie die Dachstöcke ausgebaut werden sollen.

Quelle: Skop Architektur & Städtebau
Im barrierefrei gestalteten Erdgeschoss sollen Ateliers, Läden, die Waschküche und der gemeinsam bewirtschaftete «Salon» untergebracht werden.
Die Grenzen des Machbaren
Vorschläge für ein modernes, zeitgemässes Wohnen in einem Hinterhof in der Altstadt sind für Architekturbüros eine Herausforderung – vor allem, wenn es darum geht, bei kompakten, in ihren Konturen denkmalgeschützten Volumen mit relativ geringen Geschosshöhen «Licht, Luft und Sonne» in die Tiefe der Räume zu bringen. «Trotz sorgfältiger Vorabklärungen liessen sich sämtliche Büros zu Verstössen hinreissen, welche sowohl aus denkmalpflegerischer Sicht wie auch baurechtlich nicht möglich sind», kommentierte die Gesewo im Jurybericht die vorgelegten Entwürfe. So sahen alle drei Vorschläge einen Traufdurchbruch an der Südfassade des Hauses Obertor 15 vor, um hier eine Stapelung von Balkonen oder eine Korrektur der Fassadenflucht vorzusehen. Dieser Traufdurchbruch sei ausgeschlossen, hält der Jurybericht fest. Auch die Dachaufbauten werden noch revidiert werden müssen.
Dennoch wird das Siegerprojekt als gute Basis für die Schaffung der angestrebten «Stadtoase» betrachtet. Die Baurechtsvertragsverhandlungen stehen gemäss Gesewo kurz vor dem Abschluss. Frühestens Ende 2026 sollen die Mietparteien das Haus beziehen können.
Nachgefragt... bei Jonathan Kischkel

Quelle: Rachel Engeli
Jonathan Kischkel ist der Geschäftsführer der Gesewo und Gesamtprojektleiter beim Projekt Obertor.
Weshalb hat sich die Gesewo bei der Suche nach einer architektonischen Lösung für einen Studienauftrag entschieden?
Die Gesewo ist eine private Bauträgerin. Ohne öffentliches
Vergaberecht sind wir in der Verfahrenswahl frei, wir hätten auch direkt
vergeben können. Gleichzeitig wollten wir herausfinden, was unterschiedliche
Büros dieser verwinkelten Altbauliegenschaft abtrotzen können. Uns war dabei
wichtig, das Team hinter dem jeweiligen Projekt zu spüren, auch um die
mehrjährige Zusammenarbeit auszuloten. So entschieden wir uns gegen einen
anonymen Wettbewerb und für einen Studienauftrag auf Einladung.
Das Konzept der Oase steht und fällt mit der Gestaltung des
Aussenraums. Diese fällt in die Kompetenz der Stadt. Weiss man schon, wie sie
die Aufgabe anpacken wird? Gibt es diesbezüglich einen Austausch? Lässt sich
die Stadt von Ihrem Studienauftrag inspirieren?
Nun, ein Aussenraum ist nur so gut, wie die angrenzenden
Nutzungen – gerade bei einem so kompakten Aussenraum wie diesem Hof. Wir waren
und sind deshalb im engen Austausch mit dem Amt für Städtebau der Stadt
Winterthur, das für die Aussenraumentwicklung verantwortlich zeichnet. Auch
haben wir eine Mitwirkungsveranstaltung mit der interessierten Öffentlichkeit
und einigen Personen aus unserer Genossenschaft durchgeführt. Hier haben wir
wertvolle Inputs erhalten, die in die Aufgabenstellung unseres Studienauftrags
eingeflossen sind. Aktuell läuft ein Konkurrenzverfahren zum Aussenraum. Es war
nicht möglich, die Verfahren aufbauend zu terminieren – wohl wäre auch die
Henne-Ei-Frage nicht einfach zu beantworten gewesen: Wer reagiert zuerst auf
wen, der Aussenraum auf das Haus oder umgekehrt? Die Resultate werden aber
aufeinander abgestimmt, so dass wir, Stadt und Gesewo, gemeinsam auf die Oase
hinwirken können.
Die Wohnungen in den beiden Häusern werden ungewöhnlich
sein. Wie wird die Gesewo nach verantwortungsbewussten Mietparteien suchen und
sicherstellen, dass diese einen Gemeinschaftssinn entwickeln?
Wir beginnen schon in der Vor- und Bauprojektphase mit einem
stehenden Mitwirkungsgremium, zusammengesetzt aus Menschen aus der
Genossenschaft, aus der Nachbarschaft und Interessierten. So antizipieren wir
die Nutzungsperspektive – und begleiten und unterstützen das Planungsteam auf
dem Weg zum passgenauen Projekt. Allmählich überführen wir genau dieses Gremium
in den Hausverein. Die tatsächlichen Nutzenden des Gebäudes, sei dies Wohnen
oder Arbeiten, stossen dann hinzu. So entsteht erstens ein bedarfsgerechtes
Haus, andererseits eine hohe Identifikation mit dem Projekt – und schliesslich
auch eine eingeschworene Gruppe, die Freude an der Gemeinschaft hat. Denn diese
Menschen geben dem Haus künftig das Gesicht und füllen es mit Leben, sie
verwalten es selbst und prägen damit das Haus und ihr Umfeld.
Welches ist der aktuelle Stand des Projekts? Kann am
Bezugsdatum Ende 2026 festgehalten werden?
Wir haben unmittelbar nach dem Abschluss des Studienauftrags
mit dem Architekturbüro Skop die Reise gestartet und haben das weitere
Planungsteam zusammengestellt. So sehr wir uns wünschen, der Winterthurer
Altstadt möglichst zügig mehr hochwertigen, aber günstigen Lebensraum
abzutrotzen und wir einen baldigen Bezug wünschen – das Bauen im Bestand ist
notorisch unberechenbar. Wer weiss, welche Überraschungen dieses Projekt noch
parat hält?
(Interview: Manuel Pestalozzi)