Effizienz im Holzbau: Jede Lücke zählt
Seit 2015 können in der Schweiz Hochhäuser aus Holz gebaut werden. Bislang waren diese aber überdimensioniert: Wände mit Fensteröffnungen wurden statisch als Luft betrachtet, da Informationen zu ihrem Tragverhalten fehlten. Ein Forschungsprojekt hat diese Wissenslücke nun geschlossen.
Quelle: Empa
Nadja Manser kontrolliert einen zweistöckigen Versuchsaufbau. Die Ingenieurin ist überzeugt, dass die Berücksichtigung von Holzrahmenbauwänden mit Fensteröffnungen in der Planung eines Holzbaus die Effizienz des Aussteifungssystems erhöht
Gebäude aus Holz haben eine Jahrhunderte lange Tradition: In
der waldreichen Schweiz ist der nachwachsende Baustoff bis heute, wenn er
richtig eingesetzt wird, eine wichtige, nachhaltige Alternative zum Beton.
Lange Zeit aber waren Gebäude mit einer tragenden Holzstruktur auf zwei
Geschosse beschränkt, aus Gründen des Brandschutzes.
Dies änderte sich 2015 grundlegend: Bei den
Brandschutznormen wurde die Einführung von vier Baustoff-Brandverhaltensgruppen
eingeführt (siehe Kasten «Von der Brennbarkeit zum Brandverhalten»). Seither
sind Tragstrukturen aus Holz auch für mehrgeschossige Gebäude zulässig, bis hin
zu Hochhäusern, sofern die Brandschutzanforderungen erfüllt sind. Bereits drei
Jahre später wurde das erste Schweizer Holzhochhaus mit zehn Stockwerken in
Rotkreuz bei Zug fertiggestellt. Beim Bürogebäude mit Namen «Suurstoffi 22» handelt
es sich um einen Hybridbau, bei dem der Kern und das Sockelgeschoss aus Beton
gefertigt sind. Die Haupttragstruktur des 36 Meter hohen Gebäudes besteht aus
Holz.
Quelle: Empa
Messung der Kräfte, die auf den Holzrahmen einwirken: Bisher wurden diese Segmente von Holzbauten für die statische Berechnung mangels Daten gar nicht berücksichtigt.
Statische Wissenslücke
Mit dem Trend zu höheren Gebäuden in Holzbauweise wuchsen
auch die Anforderungen, und Wissenslücken entstanden. Eine davon ist das
Tragverhalten von Holzrahmenbau-Wänden mit Fensteröffnungen. Für die auf zwei
Stockwerke beschränkten Häuser reichten die vorhandenen Wände problemlos zum
Aussteifen der Konstruktion gegen horizontale Kräfte, die aus Wind- oder
Erdbebenkräften entstehen. Deshalb wurden diese Wände und ihre Belastbarkeit
jeweils nicht berücksichtigt: Bei der statischen Berechnung von Bauten in Holzrahmenbauweise
wurden diese Segmente wie Luft behandelt. Doch mit der Möglichkeit, mit Holz
beliebig in die Höhe zu bauen, steigen die Anforderungen an die horizontalen
Gebäudeaussteifung: Es wird attraktiv, Wände mit Öffnungen für diese
Aussteifung ansetzen zu können.
An der Berner Fachhochschule in Biel, im Institut für
Holzbau IHB, erkannten Forschende das Potenzial: Lassen sich Wandsegmente mit
Fensteröffnungen in der Statik integrieren, können die Effizienz des
Aussteifungssystems erhöht und die Materialaufwände reduziert werden.
Eine Annahme, die sich in ersten Experimenten und Berechnungen am Computer,
bestätigte. So kam es 2021 zum Start eines vierjährigen Forschungsprojektes, um
diese Wissenslücke zu schliessen: Durch eine Reihe spektakulärer Grossversuche
an der Berner Fachhochschule in Biel und an der Empa in Dübendorf, zusammen mit
Berechnungen am Computer wurde das benötigte Grundlagenwissen erarbeitet. Das
Kooperationsprojekt zwischen der Berner Fachhochschule – Architektur, Holz und
Bau, der Empa-Abteilung Ingenieur-Strukturen, und dem Institut für Baustatik
und Konstruktion der ETH Zürich ist durch den «Aktionsplan Holz» vom Bundesamt
für Umwelt finanziert. Der Verband der Schweizer Holzingenieure (Swiss Timber
Engineers) und der Branchenverband Holzbau Schweiz sind als Industriepartner am
Projekt beteiligt. Die Firma Ancotech AG gewährleistete innovative,
kostengünstige Verankerungen für die experimentell untersuchten Wände.
Quelle: Empa
Neben den Messungen im Labor war und ist viel Analyse und Rechenarbeit am Computer gefragt.
Bis zum Versagen belastet
Das Projekt umfasste zahlreiche Versuche und Messungen, in
immer grösserem Massstab: Zuerst begannen die Forschenden an der Berner
Fachhochschule in Biel, einzelne Beplankungsplatten auf deren Eigenschaften zu
untersuchen. Es folgten Experimente an eingeschossigen Wänden mit
verschiedenen Fensteröffnungsgrössen und Verbindungsmitteln zwischen Beplankung
und Ständerwerk. Im letzten Schritt wurden zweigeschossige Wände und lange
Wände mit je zwei Fensteröffnungen in der Bauhalle der Empa experimentell untersucht.
Alle Wände wurden in horizontaler Richtung bis zum Versagen belastet.
Für das Projekt verantwortlich ist die Bauingenieurin Nadja
Manser, die rund um die Forschungstätigkeit ihre Doktorarbeit verfasst hat.
«Die experimentellen Untersuchungen haben wir im Februar abgeschlossen»,
erklärt die Ingenieurin. Auch ihre Dissertation ist fertig. «Jetzt erarbeiten
wir zusammen mit der Berner Fachhochschule einen Leitfaden, damit unsere
Ergebnisse in Zukunft in der Praxis angewendet werden können.» Manser hofft,
dass dieser Leitfaden bis etwa Mitte 2026 veröffentlicht werden kann. Vorgesehen
ist ein dreistufiges Vorgehen für die Planung eines Bauwerks in
Holzrahmenbauweise.
Quelle: Empa
Visuelle Markierungen an der Wand helfen bei der Auswertung der Messergebnisse.
Stufe 1: Vorphase / Machbarkeitsstudie
In dieser Phase des Projekts soll innerhalb von einfachen Berechnungen in wenigen Minuten abgeschätzt werden können, ob ein Gebäude mit Holzrahmenbauwänden ausgesteift werden kann oder nicht.
Stufe 2: Bemessung von regelmässigen Bauwerken
Auf Basis der entwickelten Computermodelle soll eine vereinfachte Bemessung für regelmässige Gebäude entwickelt werden. Damit sollen die Elemente der Holzrahmenbauwände mit Fensteröffnungen bemessen werden können.
Stufe 3: Bemessung von unregelmässigen Bauwerken
Für Gebäude, die nicht als regelmässig eingestuft werden, werden die Grundlagen geschaffen, dass der planende Ingenieur oder die planende Ingenieurin das entwickelte Computermodell selber aufbauen und das Gebäude selbständig damit berechnen kann.
Quelle: Empa
Versuchsanordnung im Labor: Die Holzrahmenkonstruktion bekommt nun solange Druck, bis sie versagt.
Nadja Manser ist überzeugt, dass die Berücksichtigung von
Holzrahmenbauwänden mit Fensteröffnungen in der Planung eines Holzbaus die
Effizienz des Aussteifungssystems erhöht und neue Möglichkeiten eröffnet.
«Durch die Berücksichtigung der Wandelemente mit Fensteröffnungen wird die
Zahl der teuren Zugverankerungen reduziert, und auch die Kräfte, welche in den
Zugverankerungen wirken, nehmen ab. Dies hat zur Folge, dass Material gespart
wird und damit die Gebäudeaussteifung günstiger werden wird.»
Weiter schafft die Berücksichtigung dieser Wandelemente
flexiblere Nutzungsmöglichkeiten: «Wir haben oft mehrgeschossige Gebäude mit
Gastronomie oder Ladenflächen im Erdgeschoss. Hier sind deshalb möglichst
wenige tragende Elemente im Gebäudeinneren gefragt. Die Flexibilität der
Gestaltung wird erhöht, wenn man stattdessen Wandelemente mit Fensteröffnungen
in der Fassade ansetzen kann.» Bei gewissen Bauwerken könnte durch die
Berücksichtigung von Holzrahmenbauwänden mit Fensteröffnungen in Zukunft auf
einen Betonkern verzichtet werden. Das Ergebnis wäre eine ressourcenschonende
und nachhaltigere Bauweise in Holz.
Quelle: Empa
Die Ingenieurin Nadja Manser hat das Forschungsprojekt geleitet und dazu auch Ihre Doktorarbeit geschrieben.
Von der Brennbarkeit zum Brandverhalten
Quelle: zvg
Die markante Fassadenkonstruktion des «Tilia Tower» soll auf den Etagen auf natürliche Weise Schatten spenden.
Die Vereinigung Kantonaler Feuerversicherungen (VKF) ist in
der Schweiz für den Erlass und die Aktualisierung der Brandschutzvorschriften
zuständig. Mit der Revision im Jahr 2015 wurde ein eigentlicher
Paradigmenwechsel vollzogen: Seither werden Baustoffe nicht mehr allein nach
ihrer Brennbarkeit, sondern nach ihrem Brandverhalten – also ihrem Beitrag zum
Brandgeschehen – beurteilt.
Kern der neuen Regelung ist die Einführung der sogenannten
RF-Klassen («Reaction to Fire»). RF1 bezeichnet Baustoffe ohne Brandbeitrag,
etwa Beton oder Glas. RF4 steht für Materialien mit unzulässigem Brandbeitrag,
wie Karton oder Holzspäne. Dazwischen liegen die Klassen RF2 («geringer
Brandbeitrag») und RF3 («zulässiger Brandbeitrag»). Gewisse Laubhölzer wie
Eiche wurden in die Klasse RF2 eingestuft – gemeinsam mit
brandschutzbehandelten Materialien. Die meisten anderen Holzarten finden sich
in RF3 wieder.
Diese Neubewertung des Baustoffs Holz durch die kantonalen
Feuerversicherungen war ein entscheidender Schritt: Sie machte den Weg frei
für den mehrgeschossigen Holzbau. Seither entstehen in der Schweiz mehrere
innovative Holz- und Hybridhochhäuser: Bereits realisiert ist das 75 Meter hohe
Holz-Hybridhochhaus «Zwhatt» in Regensdorf bei Zürich. In Prilly bei Lausanne
wächst derzeit der «Tilia Tower» in die Höhe, der dereinst 85 Meter
erreichen wird. Das in Winterthur geplante «The Rocket», das mit rund 100
Metern das weltweit höchste Holzwohnhaus hätte werden sollen, wird hingegen
nach einer Projektänderung nun in konventioneller Bauweise erstellt. (bk)