Adaptives Verschattungssystem: Die Fassade der Zukunft
Der Universität Stuttgart ist eine Innovation im Bereich der Fassadentechnik gelungen. Im Zuge eines internationalen Forschungsprojektes entstand ein Verschattungssystem, das im Botanischen Garten der Universität in Freiburg im Breisgau (D) bestaunt werden kann: «FlectoLine». Das weltweit erste System seiner Art beruht auf der Idee, anpassungsfähige Fassadenelemente für die reale Anwendung zu entwickeln.

Quelle: ITKE/ITFT, Universität Stuttgart
«FlectoLine» ganz nah: Die Fassadenelemente in halbgeöffneter Position. Gut sichtbar: Die integrierte Photovoltaik.
Klimawandel, Ressourcenknappheit und steigende Energiekosten stellen Architektur und Bauwesen vor neue Herausforderungen. Um diesen zu begegnen, bedarf es innovativer Konzepte, die Energieeffizienz zur zentralen Leitlinie machen. Besonders im Fokus: Fassaden. Als Schnittstelle zwischen Innen und Aussen spielen sie eine Schlüsselrolle bei der energetischen Bilanz eines Gebäudes. Die Zukunft liegt in ihrer Transformation zu dynamischen, adaptiven Systemen, die nicht nur Energie sparen, sondern auch Komfort und Funktionalität steigern.
Ein Paradebeispiel dafür liefert das internationale Forschungsprojekt «Flectuation». Ziel war es, anpassungsfähige Fassadenelemente zu entwickeln, die den Sprung aus dem Labor in die gebaute Realität schaffen. Das Ergebnis: «FlectoLine» – ein innovatives Verschattungssystem, das im Botanischen Garten der Universität in Freiburg im Breisgau (De) installiert wurde. Herzstück des Systems ist ein scharnierloser Verformungsmechanismus, der auf elastischer Biegung basiert, wie die Universität Stuttgart schreibt. Dadurch entfallen viele der geometrischen und mechanischen Beschränkungen herkömmlicher Systeme. Ergänzt wird FlectoLine durch eine smarte Steuerung, die auf maschinellem Lernen basiert und auf Umwelt- sowie Nutzungsdaten reagiert.
Energieeffizienz als treibende Kraft
«FlectoLine» demonstriert auf einer Fläche von über 80 Quadratmetern das Potenzial, bestehende Gebäude flexibel an veränderte Umwelt- und Nutzungsanforderungen anzupassen. Ein integraler Bestandteil des Systems ist die gebäudeintegrierte Photovoltaik, die Energieeinsparung mit erneuerbarer Energiegewinnung kombiniert. Dabei verbessern die adaptiven Elemente nicht nur den Innenraumkomfort, sondern optimieren zugleich die Ausrichtung der Solarmodule für maximalen Ertrag.
Die Entwicklung von «FlectoLine» geht aus über zehn Jahren Forschung hervor und entspringt einer Zusammenarbeit des Instituts für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen (ITKE) sowie des Instituts für Textil- und Fasertechnologien (ITFT) der Universität Stuttgart. Wie die Universität Stuttgart schreibt, gab es zwar bereits früher Demonstratoren, welche das Potenzial flexibler Mechanismen aufzeigen konnten (FlectoFold und FlectoSol), diese waren jedoch auf Tests in Innenräumen beschränkt. Mit «FlectoLine» ist es nun gelungen, eine erste voll funktionsfähige Fassade für den Aussenraum zu schaffen, welche sowohl flexible Mechanismen nutzt wie auch Nachhaltigkeit mit innovativem Design verbindet.

Quelle: ITKE/ITFT, Universität Stuttgart
Die «FlectoLine»-Elemente während des Schliess-Prozesses in der Frontansicht.

Quelle: ITKE/ITFT, Universität Stuttgart
Ansicht der Fassade bei vollständig geschlossenen Modulen.
Der Begriff der adaptiven Fassade steht für ein neues Verständnis von Gebäudehülle. Solche Systeme können sich aktiv auf wechselnde Umweltbedingungen und Nutzerbedürfnisse einstellen. Sensorik, Aktorik und intelligente Materialien arbeiten Hand in Hand, um in Echtzeit auf Lichtverhältnisse, Temperatur oder Wind zu reagieren. Ergebnis: eine optimierte Energiebilanz, gesteigerter Komfort und ein neues Interaktionsverhältnis zwischen Mensch und Architektur.
Das Design von «FlectoLine» greift auf Prinzipien der Bionik zurück. Inspiration für die neuartigen Elemente in Flügeloptik holten sich die Forscher in der Natur bei der Wasserfalle (Aldrovanda vesiculosa) und der Streifenwanze (Graphosoma italicum). Die Wasserpflanze nutzt Turgordruck in speziellen Zonen entlang ihrer Mittelrippe zur schnellen Bewegung. Dieses Prinzip wurde übertragen: Eine lineare Aktuierungszone übernimmt die Rolle des «Rückgrats» der Fassade.
Intelligente Aktuierung
Die Streifenwanze ihrerseits liefert Erkenntnisse zur Materialstruktur. Ihre Flügeladern bestehen aus steifen und flexiblen Komponenten, die die Faltung steuern. Auch bei FlectoLine definiert das Verhältnis der Materialsteifigkeit gezielt die Bewegungsrichtung. Flexiblere Bereiche reduzieren dabei interne Spannungen und ermöglichen kontrollierte Verformungen.
Kern der «FlectoLine»-Module ist ein pneumatisch betriebener Aktuator, der in eine faserverstärkte Verbundplatte integriert ist. Dieser besteht gemäss Universität Stuttgart aus einem Kissen, das bei Druckbeaufschlagung die Platte in Richtung der flexiblen Seite biegt. Eine asymmetrische Materialstruktur sorgt für die gewünschte Verformung. Die Biegung kann bis zu 90 Grad betragen – bei einem minimalen Betriebsdruck von lediglich 0,3 bis 1,5 bar. Wird der Druck abgelassen, bringt die gespeicherte elastische Energie die Platte in ihre Ausgangsform zurück.

Quelle: ITKE/ITFT, Universität Stuttgart
Die Installation der Module an der Gebäudefassade, der ein spezieller Stahlrahmen für die Anbringung vorgelegt ist.
Das natürliche Vorbild
Für die «FlectoLine»-Fassade wurden zwei unterschiedliche Materialsysteme erarbeitet. Das erste basiert auf einem Hybridverbund aus duroplastischem glasfaser-verstärktem Kunststoff und elastomeren Komponenten – eine Struktur, die bereits in vorherigen Prototypen erfolgreich getestet wurde. Die asymmetrische Materialverteilung ober- und unterhalb der Aktuatorzone steuert gezielt die Biegung. Um den Produktionsprozess zu vereinfachen, wurde ein zweites, thermoplastbasiertes System auf Polyamid-6-Basis entwickelt wie die Uni schreibt. Zwei glasfaserverstärkte Kunststofflagen mit unterschiedlichen Steifigkeiten werden dabei durch einen elastischen Klebstoff verbunden – eine Lösung, die sich ebenfalls als technisch robust erwiesen hat.
Beide Systeme sind mit einer äusseren Schutzschicht ausgerüstet, die eine erstklassige Witterungsbeständigkeit bietet und sie somit für den Einsatz in Aussenfassadenelementen befähigt. In diesem Zusammenhang wurde jedes System einem Bewitterungs- und Brandtest unterzogen, um zu gewährleisten, dass die mechanischen Eigenschaften und das Erscheinungsbild mindestens 15 Jahre lang stabil bleiben. In Anbetracht der unterschiedlichen Witterungsbedingungen an der Fassade wurden die Komponenten auch einem Windtest unterzogen, bei dem die maximal zu erwartende Windlast aus verschiedenen Richtungen aufgebracht wurde. Um die Langlebigkeit der Fassadenelemente sicherzustellen, wurde jedes Materialsystem zyklisch unter pneumatischer Aktuierung auf Biegung bis zu 90 Grad mit mindestens 20'000 Testzyklen geprüft.

Quelle: ITKE/ITFT, Universität Stuttgart
Am Anfang des Herstellungsprozesses werden die einzelnen Materialschichten zugeschnitten.

Quelle: ITKE/ITFT, Universität Stuttgart
Einzelne Materialschichten werden während der Produktionsphase sorgfältig aufeinander gelegt.
Digitale Steuerung in Echtzeit
Das Herzstück der adaptiven Steuerung ist ein digitaler Zwilling, der kontinuierlich Daten zu Licht- und Wärmeeinträgen sowie zur Energieproduktion erfasst und analysiert. Sensoren an und im Gebäude liefern in Echtzeit Informationen zu Innen- und Aussenbeleuchtung, Temperatur und Wind. Ergänzt wird das System durch Prognosedaten wie Wettervorhersagen und Nutzungsmuster. Ein auf einem Entscheidungsbaum basierender Algorithmus berechnet daraus die ideale Konfiguration der Module, um den Nutzerkomfort zu maximieren – durch optimale Tageslichtnutzung, Blendschutz und Wärmeregulierung – und gleichzeitig die Energiegewinnung durch Photovoltaik zu optimieren.
Der Demonstrator im deutschen Freiburg im Breisgau markiert einen entscheidenden Schritt in der Entwicklung grossflächiger adaptiver Fassaden. Die installierte Fläche von 83,5 Quadratmetern besteht aus 101 Einzelelementen mit variierenden Abmessungen und integriert organische Dünnschicht-Photovoltaikzellen. Mit einem Betriebsdruck von lediglich 0,4 bar erreichen die Elemente laut Uni Stuttgart eine Biegung von 90 Grad – ein eindrücklicher Beleg für die Effizienz des Systems. Darüber hinaus eröffnet FlectoLine neue Perspektiven für eine direkte, interaktive Beziehung zwischen Mensch und Gebäude, ermöglicht durch die nahtlose Integration von digitalem Design, smarter Steuerung und zukunftsweisen der Fertigungstechnologie.
Fazit: Ein Novum mit viel Potenzial
«FlectoLine» stellt mehr als ein technisches Fassadenelement dar – es ist ein Meilenstein für die klimabewusste Architektur. Durch die Kombination von bionischer Inspiration mit intelligenter Steuerung sowie innovativen Materialsystemen zeigt das Projekt, wie sich Gebäude aktiv in den energetischen Wandel integrieren können. Die adaptive Fassade markiert den Übergang von passivem Energiesparen hin zu aktiver, lernfähiger Nachhaltigkeit –ein bedeutender Schritt in Richtung klimaneutrale Städte.

Quelle: ITKE/ITFT, Universität Stuttgart
Mittels Wasserstrahlschneidern werden die fertigen Elemente am Schluss zurechtgeschnitten.
Nachgefragt... bei Axel Körner

Quelle: zvg
Das Projektteam hinter «FlectoLine»: Axel Körner (itke), Matthias Ridder (ITFT), Larissa Born (ITFT) und Edith A. Gonzalez (itke) (von oben links nach unten rechts).
Wie schätzen Sie das Potenzial ein für die Zukunft? Wo sehen Sie die grössten Chancen für «FlectoLine»?
Wir schätzen das Potential als recht gross ein, vor allem im Hinblick auf die Integration der PV-Elemente, der mechanischen Einfachheit und Wartungsfreiheit. Durch das sehr geringe Eigengewicht ist es auch eine gute Lösung für Bestandsgebäude und die geometrische Anpassbarkeit erlaubt es auch komplexere Geometrien zu verschatten. Die grössten Chancen für das Projekt sehen wir sowohl im Gebäudebestand als auch im Neubau. Hier eben auch im Einsatz auf nicht-planaren Fassaden.
Gibt es weitere Projekte in diese Richtung? Wo gibt es aktuell noch Kinderkrankheiten respektive Optimierungspotenzial?
Wir arbeiten momentan an Folgeprojekten. Konkret arbeiten wir an Weiterentwicklungen speziell bezüglich der Aktuierung und Steuerung, sowie der Skalierbarkeit und Bauteilgrösse.
Was zeichnet «FlectoLine» gegenüber herkömmlichen Fassaden aus? Eignet sich «FlectoLine» auch für Einfamilien- und Mehrfamilienhäuser oder ist das Projekt eher für Gross-Gebäude vorgesehen?
Der grösste Vorteil ist die erhöhte geometrische Adaptierbarkeit bei deutlich reduzierter mechanischer Komplexität. Punkto Hausgrösse gibt es eigentlich keine Einschränkungen in Sachen Gebäudegrösse.
Wie sind die Kosten beim Bau im Vergleich zu herkömmlichen Fassadenelementen einzuschätzen?
Die Kosten von Entwicklungsprojekten lassen sich oft nur schwer mit Produkten aus der Massenfertigung vergleichen. Dennoch gehen wir gemeinsam mit unseren Industriepartnern davon aus, dass wir hinsichtlich der Kosten mit herkömmlichen Fassadenverschattungssystemen vergleichbar sein werden.
Wie werden die Elemente kontrolliert? Was passiert bei starkem Wind /schlechten Wetterverhältnissen?
Die Elemente werden durch pneumatische Aktuatoren bewegt, die direkt in das Material integriert sind. Das System nutzt sogenannte «Compliant Mechanisms», bei denen die Bewegung durch die elastische Verformung des Materials selbst entsteht. Diese Elastizität ermöglicht nicht nur eine gezielte Bewegung, sondern auch eine reversible Verformung bei äusseren Einwirkungen wie beispielsweise Wind. Die Elemente biegen sich elastisch und kehren anschliessend in ihre ursprüngliche Form zurück. Dadurch wird die mechanische Komplexität reduziert und die Anfälligkeit für Störungen im Vergleich zu herkömmlichen starren Mechanismen deutlich verringert. (Interview: Corinne Pitsch-Obrecht)