01:00 KOMMUNAL

«Die Gemeinden stehen am Ende der Kette»

kommunalmagazin: Die Unterbringung von Asylbewerbern scheint immer problematischer zu werden. Die Stadt Zürich musste diesen Frühling ein notdürftig renoviertes Hotel nutzen, um 200 Asylbewerber unterbringen zu können. Weshalb gibt es selten geeignete Unterkünfte?
Ruedi Illes: Es ist eine Kaskade: Der Bund verteilt die Asylsuchenden auf die Kantone, die Kantone auf die Gemeinden. Wenn die Zahl der Asylgesuche stark ansteigt, spüren es die Gemeinden sofort. Sie müssen dann praktisch von heute auf morgen mehr Asylbewerber unterbringen, ohne die Zahlen auch nur im geringsten steuern zu können. Der Grund dafür sind die fehlenden Kapazitäten der Kantone. Vor der letzten Revision des Asylgesetzes unterhielten viele Kantone Asylbewerberzentren. Diese waren teilweise unterbelegt und standen zwischendurch auch einmal leer. Doch wenn viele neue Bewerber zugewiesen wurden, konnte man sie für einige Wochen unterbringen. Für solche kantonalen Zentren gibt es heute aber keine Finanzierung mehr. Unter Bundesrat Blocher strich der Bund die Mittel, und jetzt sind die Gemeinden die Leidtragenden.
Neben der Finanzierung ist auch der physische Ort der Unterkunft ein Problem.

Die Gemeinde Eglisau ZH hat jahrelang gegen ein Durchgangszentrum opponiert. Ein Grund dafür waren auch massive Vorbehalte von Anwohnern. Wie kann man auf solche Befürchtungen, etwa wegen Drogenhandels, eingehen?
Ich denke, dass eine gute Betreuung am meisten bringt. Das heisst, dass man auch zeitlich Präsenz markieren soll. Es reicht nicht, von acht bis fünf ein paar Betreuer aufzubieten und die Bewohner die restliche Zeit sich selbst zu überlassen. Wenn die Unterkünfte über Nacht oder am Wochenende regelmässig verwaist sind, kann dies rasch zu Problemen führen.

Was halten Sie von der Tendenz, Asylzentren an der Peripherie zu errichten?
Es ist nicht richtig, Menschen in Industriegebieten wohnen zu lassen. Ob Peripherie oder Dorfzentrum spielt aber eine untergeordnete Rolle. Wichtig ist in jedem Fall eine gut ausgebaute Betreuung. Damit ist auch die Kontrolle über allfällige schwarze Schafe gewährleistet. Wenn Strukturen und Ansprechpartner vorhanden sind, erleichtert das nicht nur den Asylbewerbern das Leben, sondern auch den Verantwortlichen der Gemeinde. Eine räumliche Nähe erleichtert auch das Kennenlernen und trägt zum Verständnis dieser Menschen bei.

Dann sollte die Unterkunft für Asylbewerber bewusst im Dorf und nicht am Dorfrand liegen?
Zu viel Distanz macht Begegnung und damit auch eine Integration schwierig. Die physische Nähe führt zu einem ganz anderen Umgang miteinander. Die Gemeinde Valzeina in Graubünden mit 140 Einwohnern sollte vor einigen Jahren etwa 50 Asylbewerber aufnehmen. Zuerst gab es Fundamentalopposition gegen diese Zuweisung. Dann entstand aber eine grosse Solidarität mit den Asylsuchenden.

Diese Solidarität ist auffällig. Das schweizerische Asylrecht war ja zunächst von den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs geprägt und sehr humanitär ausgelegt. Gerade die letzte Gesetzesrevision von 2005 hat aber zu einer deutlichen Verschärfung geführt. Werden damit die Ziele der Revision erreicht?
Wenn es um neue Verschärfungen geht, ist man in der Regel sehr fantasievoll. Allerdings ist es fraglich, wie wirksam diese sind. In den letzten 20 Jahren war die Zahl der Asylgesuche ständigen Schwankungen unterworfen. Bei einer Zunahme der Gesuche wurden Verschärfungen und Missbrauchsbekämpfung gefordert. Keine der Verschärfungen hat aber diese Missbräuche wirksam bekämpfen können, auch nicht die letzte Revision. Durch die Harmonisierung des Asylwesens in der EU wird die Zahl der Gesuche allenfalls abnehmen. Was aber nicht kleiner wird, ist der Migrationsdruck auf die industrialisierten Länder. Für jemanden, der in seinem Heimatland ohne jede Perspektive lebt, ist die Schweiz oder ein anderes westliches Land nach wie vor ein attraktives Land, sogar bei illegalem Aufenthalt. Ich vermute deshalb, dass es zu einem Wechsel der Kanäle kommen wird: Wer in der Schweiz kein Asyl erhalten kann, reist eventuell illegal ein.

Welche Folgen hat dieser Druck auf die Gesetzgebung?
Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf hat eingesehen, dass die Nichteintrittsverfahren zu kompliziert sind und Leerläufe verursachen. Das Ziel ist jetzt, das gesamte Verfahren wieder zu vereinfachen. Im Rahmen der laufenden Asylgesetzrevision soll auch geprüft werden, ob die Vielzahl der Nichteintretensentscheide (NEE) durch ein materielles Schnellverfahren abgelöst werden kann.

Der NEE wurde bei der Revision 2005 stark favorisiert. Man glaubte damals, dass Asylbewerber, auf deren Gesuch gar nicht erst eingetreten wird, die Schweiz freiwillig wieder verlassen werden. Ist das so?
Das kann gar nicht eruiert werden. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe sowie das Bundesamt für Migration machen ein Monitoring. Allerdings erfassen sie nur die Zahl der Personen, deren Anwesenheit bekannt ist. Wie viele Personen mit NEE die Schweiz tatsächlich verlassen oder sich aber immer noch illegal im Land aufhalten, kann kaum eruiert werden. Wir wissen also nicht mit Sicherheit, ob das System der NEE abschreckend gewirkt hat. Obwohl es starke Hinweise gibt, dass dies nicht der Fall ist, hält man daran fest.

Neben der «freiwilligen Rückreise» war ein weiteres Ziel der NEE die finanzielle Entlastung der Behörden. Anstelle der regulären Sozialhilfe sollten die abgewiesenen Asylbewerber nur noch die sogenannte Nothilfe erhalten. Wie sehen die Zahlen aus?
Das finanzielle Risiko hat sich vom Bund auf die Kantone und die Gemeinden verlagert. Der Bund zahlt den Personen mit rechtskräftigem Wegweisungsentscheid eine Pauschale. Diese ist unabhängig von der Zeitdauer, während der die Nothilfe beansprucht wird. Die Kosten für die Nothilfe sind nicht viel kleiner als die für Sozialhilfe bei Asylsuchenden. Kantone und Gemeinden müssen im Rahmen der Nothilfe immer noch für Unterbringung, Nahrung und Gesundheitskosten aufkommen. Wenn abgewiesene Asylbewerber mit ihrer Familie in der Schweiz sind und Nothilfe beziehen, muss man beispielsweise auch die Kinder einschulen.

Dann gibt es gar keine Einsparungen?
Beim Bund schon. Sicherlich sind die Kosten mit diesem System für den Bund auch berechenbarer geworden. Gesamthaft sind die Einsparungen aber wohl marginal. Die Kosten fallen anderswo und eher versteckt an.

In der EU wird die Asylgesetzgebung zunehmend harmonisiert, auch im Zusammenhang mit den Abkommen von Schengen und Dublin. Wie beurteilen Sie die Entwicklung zu einer «Festung Europa»?
Weil innerhalb der EU keine Grenzkontrollen mehr stattfinden, muss die Aussengrenze besser kontrolliert werden. Das ist eine logische Folge von Schengen/Dublin. Die rechtliche Harmonisierung beurteile ich bezogen auf das Fernziel eines einheitlichen Asylraums in Europa positiv. Es kann ja nicht sein, dass ein Asylbewerber mit denselben Fluchtgründen in Deutschland nur eine zweiprozentige Chance auf Aufnahme hat, in Österreich dagegen eine siebzigprozentige. Dabei darf man nicht vergessen, dass der EU-Raum für Migranten nach wie vor sehr attraktiv ist. Wer hereinkommen will, schafft dies in der Regel auch. Mit verstärkten Kontrollen kann man allenfalls mehr Leute an der Grenze aufgreifen. Doch um die Einwanderung ganz zu verhindern, müsste man so strikte Kontrollen einführen, dass das Leben zum Erliegen kommt. Solange das Nord-Süd-Gefälle derart gross ist wie heute, wird der Migrationsdruck deshalb nicht nachlassen.

Ein Weg, um mit diesem Druck umzugehen, ist die Entwicklungszusammenarbeit. Wie sinnvoll ist es, beispielsweise Projekte im Kosovo zu unterstützen?
Die momentane Politik der Schweiz stimmt mich skeptisch. Migrationspartnerschaften werden nicht mit jenen Ländern eingegangen, die unsere Hilfe am nötigsten hätten. Stattdessen kooperiert man mit den Ländern, aus welchen die meisten Asylbewerber stammen. Die Entwicklungshilfe im Rahmen dieser Migrationspartnerschaften ist also nicht entwicklungspolitisch, sondern primär innenpolitisch motiviert. Die Schweiz arbeitet zum Beispiel mit Nigeria zusammen. Dies aber nicht, weil das Land zu den ärmsten Ländern zählt, sondern weil gegenwärtig besonders viele Asylbewerber aus Nigeria in die Schweiz kommen. Ähnlich sieht es im Kosovo aus. Aufgrund der starken Zuwanderung in den neunziger Jahren flüchteten im Kosovokrieg sehr viele Kosovaren in die Schweiz und kehrten auch rasch dorthin zurück. Die Unterstützung durch die Schweiz im Rahmen des Wiederaufbaus nach dem Krieg war sicherlich sinnvoll und notwendig. Global gesehen ist der Kosovo beziehungsweise der Balkan heute aber nicht die Region, die am meisten Entwicklungshilfe braucht.

Wie gut sind Gemeindeangestellte ausgebildet, um mit Asylbewerbern umzugehen?
Wer Asylsuchende betreut, muss vielfältigen Anforderungen genügen. Wichtig ist zum Beispiel das Bewusstsein für andere Kulturen und migrationsspezifische Aspekte bei der Kommunikation Asylbetreuer ist kein Beruf, es gibt jedoch einen Kurs des BFM (vgl. Kasten «Ressourcen für Gemeinden»), der auf diese Aufgaben vorbereitet.

Wie sieht es mit der Beschäftigung von Asylbewerbern aus?
Nach der Wartefrist von drei Monaten erhalten Asylbewerber eine reguläre Arbeitsbewilligung. Dies aber nur, wenn kein negativer Entscheid vorliegt. Viele Kantone haben zudem Beschäftigungsprogramme lanciert. Diese umfassen Anlehren oder gemeinsames Arbeiten. Ich finde, dass man aber durchaus fantasievoller sein dürfte.

Wie zum Beispiel?
Allgemeine Rezepte gibt es hier nicht. Es lohnt sich aber, die Aufgaben in der eigenen Gemeinde genau anzuschauen und sich zu überlegen, was die Alternative zum Aufräumen im Wald ist.

Manche Asylbewerber verfügen ja auch über Spezialkenntnisse oder akademische Ausbildungen. Wäre es möglich, diese Kenntnisse zu nutzen?
Im Prinzip ja. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen setzen aber Grenzen. Das Prinzip der Inländerbevorzugung verlangt, dass eine Arbeitsstelle bei gleichen Qualifikationen zuerst Schweizer Kandidaten oder Ausländern mit gefestigtem Aufenthalt zugesprochen wird. Und ausländische Diplome werden nicht anerkannt, sodass Bauingenieure lediglich als Küchenburschen einen Job finden.

Ressourcen für Gemeinden

Mit der Unterbringung ist es nicht getan: Gemeinden müssen auch für eine angemessene Betreuung der ihnen zugewiesenen Asylbewerber sorgen. Manche Kantone delegieren diese Aufgabe ganz oder teilweise an Hilfswerke. So werden etwa alle Asylbewerber im Kanton Obwalden durch die Caritas Schweiz betreut. Andere Kantone, darunter Solothurn oder Fribourg, delegieren einen Teil dieser Aufgaben an private Unternehmungen wie die ORS Service AG. Eine dritte, ebenfalls häufige Lösung: Die Gemeindeverwaltungen stehen direkt in der Pflicht. Das nötige Fachwissen für den Umgang mit Asylsuchenden und Flüchtlingen ist unter anderem hier zugänglich:

Unter dem Patronat des Bundesamtes für Migration bietet die Firma Agogis einen 30-tägigen Kurs «Migrationsfachmann/Migrationsfachfrau» an. Die Migrations-Fachleute arbeiten in der Beratung, Betreuung und Förderung von unterstützungsbedürftigen Migranten. Dazu gehören etwa Asylsuchende, anerkannte Flüchtlinge oder Angehörige anderer Migrationsgruppen.
www.agogis.ch
Auf der Website des Bundesamtes für Migration (BFM) werden die wichtigsten Rechtsgrundlagen dokumentiert. Unter Themen > Asyl > Weiterführende Adressen werden unter anderem die Kontaktdaten der kantonalen Asylkoordinatoren genannt. Sie sind Ansprechpartner für Fragen zur Unterkunft und Betreuung durch die Gemeinden.
Ergänzende Informationen zum Asylrecht, dessen Umsetzung sowie zu den Herkunftsgebieten der Flüchtlinge finden sich auf der Website der Schweizerischen Flüchtlingshilfe:
www.fluechtlingshilfe.ch

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