11:45 KOMMUNAL

Asylbewerber – bitte nicht in meinem Dorf!

Von Patrick Aeschlimann

Wolfgang Schibler, SVP-Politiker, übernahm am 1. November 2011 das Amt des Gemeindeammanns (Gemeindepräsident) im aargauischen Bettwil. Nur drei Tage später führte er ein Telefonat, welches sein Leben verändern sollte: Die Aargauer Regierungsrätin Susanne Hochuli (Grüne) teilte ihm mit, dass in seiner ­Gemeinde rund 140 Asylsuchende untergebracht werden sollen. Seither ist in der 560-Seelen-Gemeinde die Hölle los: Bürgerproteste, Plakate, Petitionen und Negativschlagzeilen. Die ganze Schweiz kennt Bettwil und Wolfang Schibler dank dem Widerstand gegen das Asylzentrum. «Wir haben nichts gegen Ausländer», wiederholt Schibler gebetsmühlenartig in allen Medien. Vielmehr sei das Problem kommunikativer Art: «Kanton und Bund haben uns vor vollendete Tatsachen gestellt. Wir Bettwiler wurden nicht in diese Entscheidung miteinbezogen», sagt Schibler.

Zudem wirft der Gemeindeammann dem Direktor des Bundesamts für Migration, Mario ­Gattiker, und Regierungsrätin Hochuli vor, am Infoanlass für die Bettwiler Bevölkerung Ende November schlecht vorbereitet gewesen zu sein und «eine gewisse Überheblichkeit» an den Tag gelegt zu haben. Man habe gar nicht genau abgeklärt, ob die für das Asylzentrum vorgesehene Militäranlage überhaupt geeignet sei für die Unterbringung von derart vielen Menschen. Im Winter sei es dort eisig kalt und es fehle an sanitären Anlagen, berichtet Schibler. Für ihn ist klar: «Die Anlage ist für etwa 30 Personen angelegt, 80 oder noch mehr Menschen dort unterzubringen ist menschenunwürdig.»

In Bettwil lebe bereits eine Familie Asyslsuchender, die sich gut ins Dorfleben integriert habe. Man wäre auch bereit mehr aufzunehmen, wenn die Vertreter von Bund und Kanton «mit einem realistischen Projekt auf Augenhöhe mit uns diskutieren würden», so Schibler. Kollegen, die in den Gemeinden in ähnlichen ­Situationen sind, rät er, nicht alles zu Glauben, was Politik und Verwaltung sagen: «Wenn Konflikte mit kantonalen und eidgenössichen Stellen schwelen, sollten kommunale Milizpolitiker Juristen an die Treffen mitnehmen. Sonst kommt man ziemlich schnell unter die Räder.» Auch der Umgang mit den ­Medien war etwas Neues für Schibler: «Ich hätte mich schneller an einen Kommunikationsexperten wenden sollen.»

Erfahrung seit 25 Jahren

Viel entspannter präsentiert sich die Situation im schaffhausischen Buch. Die ­Gemeinde im Hegau hat gerade einmal 316 Einwohner – beherbergt aber seit über einem Vierteljahrhundert gegen 100 Asylbewerber. Probleme tauchen höchst selten auf, wie SVP-Gemeindepräsident Rudolf Tappolet auf Anfrage bestätigt: «Das Zusammenleben von Asylsuchenden und Bevölkerung hat bei uns Tradition und ­verläuft weitestgehend reibungslos.» Bis in die frühen 80er-Jahre war in der «Friedeck» im Dorfzentrum ein Kinderheim untergebracht. Nach dessen Schliessung stellte sich die Frage, was mit den grossen Räumlichkeiten im ­kleinen Dorf geschehen soll. Tappolet erinnert sich an die damalige Gemeindeversammlung: «Zur Auswahl standen ein Rehabilitationszentrum für Drogenabhängige oder das Durchgangszentrum für Asylbewerber. Das Verdikt fiel ­relativ klar zugunsten der Ausländer aus.» ­Bereut hat er die Entscheidung nie. «95 Prozent der Asylsuchenden sind liebenswerte Menschen. Mit den wenigen anderen sind wir noch immer zurecht gekommen.» Im Gegensatz zu Bettwil ist die Unterkunft in Buch also demokratisch legitimiert.

Das Theater in ­Bettwil kann Tappolet trotzdem nicht ganz nachvollziehen: «In der Schweiz leben wir sehr gut, da muss man halt auch gewisse Opfer bringen. Irgendwo muss man diese Menschen ja unterbringen, wenn sie schon in unserem Land sind.» Mit den vorgesetzten Stellen bei Bund und Kanton habe man ein gutes Verhältnis. Erst letzten Oktober ist ein nordafrikanischer Asylbewerber aus der «Friedeck» nachts in ein Privathaus eingebrochen und hat eine Frau sexuell belästigt. «Da habe ich bei der zuständigen kantonalen Stelle interveniert und nun patrouillieren nachts private Sicherheitskräfte. Seither ist es wieder ruhig im Dorf», sagt Tappolet. Zum Inventar des ehemaligen Kinderheims gehört auch ein Freibad, das im Sommer von Asylsuchenden und Einheimischen gleichermassen frequentiert wird. So entstehen immer wieder wertvolle Begegnungen. «Vielleicht sind wir hier, am ‹Anfang› der Schweiz, unmittelbar an der Grenze zu Deutschland, ­etwas aufgeschlossener als in anderen Teilen des Landes», vermutet Tappolet.

Nach Widerstand folgt Ruhe

Roman Della Rossa von der «ORS Service AG» kennt die Betreuung von Asylsuchenden aus seiner täglichen Arbeit. Im Auftrag von Bund, Kantonen und Gemeinden betreibt die Firma zahlreiche Asylzentren. Das Verhältnis der ­Anwohner zu einer neuen Asylunterkunft unterteilt er typischerweise in drei Phasen: «In Phase eins ist der Widerstand oft sehr gross und die Medien berichten über das Thema. Dann kehrt Ruhe ein und die Betreuungsteams vor Ort können ungestört arbeiten. In der dritten Phase tun sich die Gegner der Asylunterkunft schwer, ihre kritische Meinung zu ändern, wenn der Betrieb der Asylunterkunft weitgehend unproblematisch läuft.»

Der Dialog ist für Della Rossa das wichtigste Element einer erfolgreichen Asylunterkunft. Für Bedenken oder Ängste der Bevölkerung hat er Verständnis, denn der Asylbereich ist und bleibt ein sensibler Bereich und nur wenige sind begeistert, wenn in ihrer Nachbarschaft eine Unterkunft für Asylsuchende eröffnet wird. «Das sollten alle Akteure ernst nehmen. Sonst kann das Nebeneinander und Miteinander schnell zu Unsicherheit und gar zu einem Gegeneinander führen.» Die Diskussion zur Betreuungs- und Unterbringungssituation sollte deshalb etwa an Informationsveranstaltungen losgelöst von der politischen Diskussion geführt werden. Die Firma ORS organisiert auch regelmässig Tage der offenen Türen in ihren Unterkünften, damit sich die Bevölkerung selbst ein Bild über das Leben dort machen kann. Als ein hilfreiches Instrument erachtet Della Rossa die Bildung einer Begleitgruppe, und zwar am besten bevor die Asylunterkunft zum ersten Mal bewohnt ist. Sie besteht in der Regel aus Anwohnern, der Polizei, Mitgliedern von Gemeindebehörden, der Betreuungsorganisation und eventuell dem lokalen ­Gewerbe. In ­diesem Gremium können festgestellte Probleme oder Beobachtungen besprochen und so unmittelbar auf die Situation rund um eine Asylunterkunft Einfluss genommen werden. Ausserdem schafft dies Transparenz über den Alltag in einer Asylunterkunft und baut Vorurteile und Ängste ab.

Asylsuchende als Chance

Bei all den Negativschlagzeilen der vergangenen Wochen droht vergessen zu gehen, dass die Aufnahme von Asylsuchenden für eine Gemeinde nicht nur Risiken, sondern auch Chancen bietet. Der Bucher Gemeindepräsident ­Rudolf Tappolet streicht die finanziellen Vorteile heraus: «Der Kanton entschädigt unsere Gemeinde für die Aufnahme der Asylsuchenden. Das Schwimmbad bei der ‹Friedeck› konnten wir gratis pachten und zahlen nur für Wasser und Chlor.» Um die Asylbewerber zu beschäftigen und gleichzeitig wichtige Arbeiten zu erledigen, die eine Gemeinde sonst nicht bezahlen könnte, appelliert Roman Della Rossa an die Kreativität der Gemeinden: «Gemeinsam mit einer Betreuungsorganisation können Gemeinden auch einen kleinen Mehrwert schaffen, indem Asylsuchende beispielsweise Wanderwege wieder herrichten, im Rahmen eines Naturschutzprojekts den Wald aufräumen oder Trottoirs oder Parkanlagen reinigen. Solche Beschäftigungsprogramme werden auch von den Asylsuchenden sehr geschätzt, weil sie oft eine ausgezeichnete Gelegenheit bieten, den eigenen Alltag sinnvoll zu gestalten.»

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