Hochwasserschutz für Zürich: Ein Super-Stollen für die Sihl
Das mit Abstand grösste Hochwasser-Risiko im Kanton Zürich
geht von der Sihl aus. Im Extremfall drohten alleine in der Stadt Zürich
Gebäudeschäden von über 6 Milliarden Franken. Doch bald ist damit Schluss: Ab
Ende 2026 fliessen bei einem Hochwasser die gewaltigen Wassermassen durch den
Entlastungs-stollen in den Zürichsee. Ein Einblick in das imposante
Grossprojekt.
Quelle: Corinne Pitsch-Obrecht
Die sogenannten Tübbinge sind vorgefertigte Stahlbetonelemente mit einem Kniff: Die Struktur sorgt für einen idealen Wasser-Durchfluss und bremst das Wasser auf seinem Weg durch den Stollen.
Der Entlastungsstollen entsteht in der Hoffnung, dass er
möglichst selten gebraucht wird. Angesichts der klimatischen Prognosen ist
jedoch eher das Gegenteil zu erwarten: Hochwasser könnten künftig häufiger und
intensiver auftreten. Deshalb entsteht seit 2022 im Sihlamt ein sogenannter
Entlastungs-stollen. Ein Entlastungsstollen der Superlative – damit Zürich
nicht untergeht.
Quelle: Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft, Kanton Zürich
Der Schwemmkegel der Sihl erfasst grosse Teile der Stadt Zürich und verdeutlicht die Notwendigkeit eines weitsichtigen Hochwasserschutzes.
Quelle: Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft, Kanton Zürich
Der Stollen verläuft unter dem Gattiker Waldweiher durch den Zimmerberg, bis er in Thalwil in den See mündet. Insgesamt zwei Kilometer lang ist die Stollenröhre.
Ein neues Zeitalter im Hochwasserschutz: warum es den Stollen braucht
Ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt, weshalb ein
derartiger Stollen überhaupt nötig ist. So wurde Zürich in der Vergangenheit
immer wieder von Hochwassern heimgesucht. Denn: Grosse Teile der Stadt Zürich
liegen auf dem Schwemmkegel der Sihl, also einem natürlichen
Überschwemmungsgebiet. Dieses birgt eines der grössten Hochwasserrisiken der
Schweiz. Bereits in den Jahren 1846 und 1874 kam es zu starken Überflutungen in
Zürich. Zwar wusste man bereits damals um die gefährdeten Gebiete in der
Innenstadt und im Westen der Limmatstadt, die demografische Entwicklung führte
aber dennoch zum Bau neuer Gebäude im Stadtgebiet.
1910 war das letzte grosse Sihl-Hochwasser. Damals richtete
ein Hochwasser in der bereits sehr stark gewachsenen Stadt Zürich riesige
Schäden an. Weite Teile der Stadt sowie die Ebene bis Schlieren standen unter
Wasser. Wassermassen mit einer Geschwindigkeit von 450 Kubikmetern pro Sekunde
liessen damals die Stadt überschwemmen.
Die Zahl der Gebäude und damit das Schadenspotenzial hat
sich seither nochmals um ein Vielfaches erhöht. Im Jahr 2005 führten heftige
Niederschläge erneut zu Hochwasser. Nur dank der Tatsache, dass das
Niederschlagszentrum über dem Berner Oberland gelegen hatte, entging die Stadt
Zürich einer Katastrophe und Schäden in Milliardenhöhe. Stattdessen kam sie
glimpflich davon und die Schäden betrugen «lediglich» 15 Millionen Franken.
Quelle: Baugeschichtliches Archiv
Überschwemmung von 1910: Aufgenommen in Höngg zeigt die Aufnahme die Verwüstung von Zürich-West, hier im Bild mit Blick gegen Altstetten.
Quelle: Baugeschichtliches Archiv
Bewohner von Altstetten 1910. Das Hochwasser der Sihl reichte bis nach Schlieren.
Ein unsichtbarer Retter: so funktioniert der Stollen
Am Einlaufbauwerk befindet sich ein Wehr, das aus einer
Betonwand und zwei darauf montierten, luftgefüllten Schläuchen besteht. Bei
normalem Wasserstand sowie bei kleineren Hochwassern bleibt der Zugang zum
Stollen verschlossen. Steigt der Pegel der Sihl jedoch über den kritischen
Schwellenwert, registrieren dies die Messsensoren am Oberlauf der Sihl: Die
rund 40 Meter langen Schlauchwehre senken sich ab – und ermöglichen so, dass
das Wasser kontrolliert in den Zürichsee abgeleitet wird.
In Thalwil mündet der Entlastungsstollen in die sogenannte
Toskammer des Auslaufbauwerks. Von dort führt ein rechteckiger Betonkanal mit
einer Breite von acht Metern und einer Höhe von sechs Metern unter der
Seestrasse hindurch. Dieser Kanal verläuft etwa 90 Meter weit in den Zürichsee
hinein. An seinem Ende – mehrere Meter vom Ufer entfernt und mindestens drei
Meter unter der Wasseroberfläche – wird das Wasser der Sihl kontrolliert in den
See eingeleitet. Ein Schutzgitter beim Auslauf verhindert, dass Personen in das
Bauwerk gelangen können. Durch das starke Gefälle im Stollen erreicht das
Sihlwasser eine Geschwindigkeit von rund 50 Stundenkilometern, wenn es in die
Toskammer eintritt. Dort wird es gezielt auf weniger als 15 km/h abgebremst. Ohne diese
Verlangsamung würde das Wasser mit hoher Wucht in den
See strömen, Sedimente aufwirbeln und dadurch das
Wasser eintrüben – was
wiederum die nahegelegenen Trinkwasserfassungen beeinträchtigen könnte.
Das Einlaufbauwerk oberhalb von Langnau am Albis wird so
konzipiert, dass ab einem Abfluss von rund 250 Kubikmetern pro Sekunde
Sihlwasser kontrolliert in den Entlastungsstollen und weiter in den Zürichsee
umgeleitet wird.
Zum Vergleich: Beim Hochwasser 2005 erreichte die Sihl einen
maximalen Abfluss von 290 Kubikmetern pro Sekunde. Nach heutigen Erkenntnissen
ist damit zu rechnen, dass etwa alle 20 Jahre Wasser durch den
Entlastungsstollen fliesst. Gleichzeitig bleibt stets genügend Restwasser in
der Sihl, um die ökologischen Anforderungen zu erfüllen.
Der Entlastungsstollen schützt die Stadt Zürich und den
Hauptbahnhof vor extremen Hochwasserereignissen mit Abflussspitzen von bis zu
600 Kubikmetern pro Sekunde – das entspricht einem Jahrhunderthochwasser mit
einer statistischen Wiederkehrperiode von rund 500 Jahren, wie der
Mediensprecher der kantonalen Baudirektion, Wolfgang Bollack erläutert. Die
Umleitung solch extremer Wassermengen in den Zürichsee würde den Seespiegel
nur geringfügig ansteigen lassen, um etwa fünf Zentimeter. Dieser Anstieg kann
durch die Erneuerung der Rathausbrücke sowie des Platzspitz-Wehrs ausgeglichen
werden.
Quelle: Corinne Pitsch-Obrecht
Wolfgang Bollack, Mediensprecher der Zürcher Baudirektion, im Stollen.
Auslaufbauwerk: das «Filetstück des Projekts»
Zur Verbesserung des Hochwasserschutzes im Sihltal und im
Stadtgebiet Zürich wurden seit den Unwettern von 2005 bereits einige wichtige
Massnahmen umgesetzt.
So wurde etwa mit dem Bau der neuen Durchmesserlinie 2007
beim Hauptbahnhof Zürich die Sohlabsenkung der Sihl realisiert. Dadurch konnte
die Durchflusskapazität des Flusses im Bereich des meistfrequentierten
Bahnhofs der Schweiz deutlich erhöht werden.
Ein weiterer Meilenstein war die Inbetriebnahme des
Sihl-Schwemmholz-rechens oberhalb von Langnau am Albis im Juni 2017. Diese
Anlage hält Schwemmholz zurück und verhindert so Verstopfungen an kritischen
Engstellen, insbesondere an Brücken und den Durchlässen unter dem Hauptbahnhof
Zürich.
Weiter kann der Kanton Zürich bei drohenden
Hochwasserereignissen eine kontrollierte Absenkung des Sihlseepegels
veranlassen. Diese Vorabsenkung und verbesserte Steuerung des Sihlsees,
durchgeführt durch die Etzelwerk AG, schafft zusätzlichen Rückhalteraum und
trägt wesentlich dazu bei, Überschwemmungen zu verhindern.
Die umfangreichste aller Massnahmen ist nun aber der neue
Entlastungsstollen. Mit einer Breite von 6,6 Metern und einer Länge von
zwei Kilometern führt er einmal quer vom Sihltal durch den Zimmerberg bis an
den Zürichsee. In Thalwil befindet sich das sogenannte «Auslaufbauwerk»,
welches der verantwortliche Projektleiter Adrian Stucki das «Filetstück des
Projekts» nennt. In einer Tiefe von 4,5 Metern und 90 Meter vom See-Ufer
entfernt wird das Hochwasser von einer sogenannten Toskammer aufgefangen, abgebremst
und schliesslich in den See geleitet. Dabei generiert es erst noch thermische
Energie.
Quelle: Corinne Pitsch-Obrecht
Projektleiter Adrian Stucki vom AWEL (Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft).
Ein Stollen mit einem stolzen Preisschild
Rund 175 Millionen Franken investiert der Kanton Zürich in
die Planung, den Bau und die ökologischen Ausgleichsmassnahmen des
Entlastungsstollens. Eine stolze Summer zwar, aber eine Investition, die sich
lohnt: Ein Extremhochwasser der Sihl könnte in der Stadt Zürich Schäden von bis
zu 6,7 Milliarden Franken verursachen. Nicht eingerechnet sind dabei
Folge-kosten, welche die Sachschäden um ein Vielfaches übersteigen würden.
Den Hauptteil der Kosten übernimmt der Kanton Zürich. An der
Finanzierung beteiligen sich ausserdem der Bund, die Stadt Zürich, die SBB
sowie die SZU (Sihltal Zürich Uetlibergbahn).
Die Entwicklung sowie der Bau des Stollens stellte alle
Beteiligten vor eine grosse Herausforderung. Zusammen mit der ETH Zürich wurde
zuvor ein Prototyp entwickelt, ein sogenanntes hydraulisches Modell, wie Adrian
Stucki erklärt. Für den Bau der eigentlichen Röhre kam dann eine spezielle
Tunnelbohrmaschine zum Zug: Ihr Bohrkopf stützte den ausgebrochenen Hohlraum
mit einer Stahlröhre. Damit wurde ein Herabfallen der Felsplatten von der Decke
verhindert. Anschliessend brachte sie Tübbinge, also vorgefertigte
Stahlbetonelemente, an. Insgesamt 6588 solcher Tübbinge wurden verbaut. Eine
der grössten Herausforderungen war für Adrian Stucki der schlechte Baugrund
beim Auslaufbauwerk. Die Arbeiten mussten entsprechend angepasst werden.
Quelle: Corinne Pitsch-Obrecht
Hier entsteht der Übergang von der Tunnelröhre zum Auslaufbauwerk in Thalwil.
Vor Kurzem Menschen-, später Wassermassen
Ende August gab es die einmalige Gelegenheit, den
Entlastungsstollen zu begehen – bevor er für immer der Öffentlichkeit
verschlossen bleibt. Während einem Wochenende stand der Stollen der
interessierten Bevölkerung offen und gewährte Einblicke in die Tiefe. Grund:
Anders als das Projekt, ist die Röhre selbst bereits vollendet. Sie wird in
Zukunft lediglich noch für Unterhaltsarbeiten zugänglich sein. Das
Interesse, einmal in die Röhre gucken zu können, war daher riesig: Nach Angaben
der Baudirektion absolvierten exakt 18 362
Menschen die zwei Kilometer lange Stollen-Wanderung von Langnau am Albis bis
nach Thalwil. «Wir sind es der Bevölkerung schuldig, ihr einmal dieses Bauprojekt zu zeigen», erklärte Wolfgang Bollack vor Ort. Für Bollack bildet der Stollen das «Herzstück des Zürcher Hochwasserschutzes». Wenn es nach Baudirektor Martin Neukom selbst geht, ist das
Bauprojekt nichts weniger als ein «Jahrhundertbauwerk».
Auf der Zielgeraden: jetzt bloss kein Hochwasser
Die Bauzeit für den Entlastungsstollen beträgt viereinhalb
Jahre. Der Baustart erfolgte im März 2022, die Inbetriebnahme ist für Ende 2026
geplant. Was wäre, wenn es vor Anfang 2027 zu einem Hochwasser kommen würde?
Für Adrian Stucki stellt dies sein persönliches Alptraum-Szenario dar.
Glücklicherweise sei dies sehr unwahrscheinlich, so der Projektleiter.
Ebenso schlimm und weitaus wahrscheinlicher seien
beispielsweise Verzögerungen bei den Bauwerken an den beiden Tunnelportalen,
wie er sagt. Dies würde den Betrieb verzögern.
Welche Arbeiten stehen bis zur Inbetriebnahme noch auf dem
Programm? Sowohl auf der Seite des Sihtals wie auch in Thalwil stehen diverse
Betonarbeiten an. Im Bereich des Einlaufbauwerks in Langnau wird beispielsweise
die Decke der Verbindungsstrecke zwischen Einlaufbauwerk und Stollen erstellt.
Ebenfalls wird ein Betriebsgebäude errichtet. In Thalwil wiederum stehen
ebenfalls umfangreiche Betonarbeiten bevor. So muss die wichtige Toskammer, die
das Wasser vor dem Eintritt in den See abbremst, realisiert werden. Des
Weiteren wird der Seegrund ausgehoben. Danach werden Stützen eingebaut, damit
die Stahlwände der Baugrube dem Wasserdruck standhalten. Mikropfähle werden
erstellt, damit der Rechteckkanal im Seegrund verankert ist.
Quelle: Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft, Kanton Zürich
Das Auslaufbauwerk in Thalwil aus der Vogelperspektive im Juli 2025.
Eingriff in die Natur – und Ausgleich im Doppelpack
Es ist offensichtlich: Ein derartiges Grossprojekt hat auch
Einfluss auf die Natur. Mit der Erstellung des Einlaufbauwerkes wird ein Stück
Sihlufer verbaut, für das Aus-laufbauwerk wiederum wird in die
Unterwasser-Lebensräume des Zürichsees einge-griffen. Aus diesem Grund ist der
Kanton Zürich verpflichtet, ökologische Ersatzmassnahmen zu leisten. Soll
heissen: Den verbauten Naturraum an anderer Stelle so gut wie möglich wieder
aufzubauen. Dafür wurden zwei Orte ausgewählt: Einerseits das Sihlufer in Langnau
am Albis, andererseits der Zürichsee bei Richterswil. In Richterswil sind die
Ersatzmassnahmen bereits abgeschlossen. Entstanden ist eine Uferlandschaft,
welche das Seeufer aufwerten soll. In Langnau am Albis laufen die
Er-satzmassnahmen noch bis 2027. Auf einem 1,5 Kilometer langen Abschnitt
entsteht ein neuer Lebensraum für Tierarten; ausserdem wird der Zugang zum
Wasser verbessert.
Quelle: Corinne Pitsch-Obrecht
Bei der Begehung war der trichterförmige Eingang oberhalb von Langnau am Albis noch offen. Bald wird er geschlossen.
Mehr als ein Tunnel: Zürich rüstet sich umfassend gegen Hochwasser
Neben dem Bau des Sihl-Entlastungsstollens setzt der Kanton
Zürich gemeinsam mit der Stadt weitere wichtige Massnahmen um, um den
Hochwasserschutz ganzheitlich und langfristig zu stärken sowie gleichzeitig die
Gewässerräume aufzuwerten.
Ein zentrales Projekt hierbei ist die Sanierung des
Platzspitzwehrs, wo die Limmat und die Sihl zusammentreffen. Das Wehr reguliert
den Zürichsee-Pegel und dient der Wasserkraftnutzung. Nach über 70 Jahren
Betrieb hat die Anlage das Ende ihrer technischen Lebensdauer erreicht. Zudem
ist sie im Hochwasserfall nur eingeschränkt steuerbar. Deshalb wird das
Platzspitzwehr bis 2028 erneuert. Auch bei der Münster- und der
Rathausbrücke werden Massnahmen umgesetzt, um den Abfluss aus dem Zürichsee zu
verbessern. Engpässe in diesem Bereich führen heute zu einer verringerten
Abflusskapazität der Limmat. Durch Ausbaggerungen der Flusssohle und eine
Anpassung der Pfeilerkonstruktion der Rathausbrücke wird der Wasserabfluss
künftig effizienter und sicherer gestaltet.
Im Bereich der Allmend Brunau besitzt die Sihl aktuell die
geringste Abflusskapazität im Stadtgebiet. Hier werden vereinzelte
Ufererhöhungen vorgenommen, um den Hochwasserschutz deutlich zu verbessern und
gleichzeitig den Sihlraum aufzuwerten.
Wenn der Entlastungsstollen nächstes Jahr Betrieb geht, wird
Zürich erstmals zuverlässig vor einem Extremhochwasser der Sihl geschützt sein
– ein Meilenstein für die Sicherheit der gesamten Region.