ISO 45001: Weil Sicherheit und Gesundheitsschutz nicht verhandelbar sind
Zwischen Betonmischern und Bauplänen leben die Mitarbeitenden des Bau- und Immobilienunternehmens Anliker eine Sicherheitskultur, die weit über Schutzhelme und Arbeitsschuhe hinausgeht. Wie das gelingt, erzählen Florian Spichtig und Matthias Knotz.
Quelle: Anliker Gruppe, zvg
Blick auf die Baustelle im solothurnischen Neuendorf.
Von Claudia Furger, SQS*
Die Vibrationsplatte donnert über die frisch aufgeschüttete
Erde, während im Innern des Rohbaus eine Fräse aufheult. Männer mit gelben
Helmen und orangen Westen laufen über die Baustelle – leuchtende Farbtupfer im
grauen Geflecht aus Stahl und Beton. Einer von ihnen ist Matthias Knotz. Der
Qualitäts-, Umwelt- und Sicherheitsbeauftragte kontrolliert an diesem Herbsttag
eine der rund 150 aktiven Baustellen des Unternehmens, hier im solothurnischen
Neuendorf am Jurasüdfuss.
Knotz ist Teil eines fünfköpfigen Teams, das sich einem
gemeinsamen Ziel verschrieben hat: dem sicheren Arbeiten auf der Baustelle.
Denn jeder fünfte Berufsunfall in der Schweiz passiert dort. Stolpern und
Stürzen sind dabei die häufigsten Ursachen. Mit kritischem Blick läuft er übers
Gelände, fotografiert mal eine Absturzsicherung und gestapelte Bretter, mal
locker aufgerollte Kabel. Er prüft, ob Schutzbrillen getragen, Lasten korrekt
angeschlagen oder spitze Gegenstände und Öffnungen korrekt abgedeckt werden.
Ausserdem achtet er darauf, dass die Baustelle aufgeräumt und sauber ist. Denn
Ordnung und Sicherheit sind eng miteinander verbunden. Was ihm auffällt,
landet in seiner Risikobeurteilung, die er am Ende des Tages schreibt.
«Mir ist es wichtig, dass die Kontrollen nicht als Schikane
verstanden werden», sagt er. «Es geht um einen konstruktiven Blick von aussen,
um Abläufe zu beobachten und den Schutz aller zu gewährleisten.» Fällt ihm ein
Missstand auf, sucht er das Gespräch mit dem Bauarbeiter oder dem Polier. «Nur
wenn alle die Risiken kennen und die Regeln einhalten, funktioniert die Arbeit.
Dann kann man sich aufeinander verlassen – auch unter Termindruck», sagt Knotz.
Und dieser ist in der Baubranche in der Regel hoch. Deshalb besuchen die
Sicherheitsbeauftragten jede Baustelle mindestens einmal im Monat und führen so
jährlich gut 1300 interne Audits durch.
Zum Unternehmen
Die Anliker Gruppe realisiert in der Schweiz Projekte für Grossunternehmen, für Bund und Kantone sowie für institutionelle und private Auftraggeber. Florian Spichtig ist Leiter Führungssupport und verantwortlich für das Qualitäts-, Umwelt- und Arbeitsschutzmanagement. Matthias Knotz ist Qualitäts-, Umwelt- und Sicherheitsbeauftragter und kontrolliert die Baustellen jeweils vor Ort.
Ein Regelwerk als Rückgrat
Damit ein solcher Arbeits- und Gesundheitsschutz in einem
Betrieb mit rund 1700 Mitarbeitenden funktioniert, braucht es ein System. Die
Anliker Gruppe setzt deshalb auf die ISO 45001:2018, die ihre frühere
Zertifizierung nach OHSAS 18001 im Jahr 2020 ablöste. Denn bei Anliker ist man
überzeugt: Unfälle sind keine Zufälle und Arbeitssicherheit ist weitgehend
planbar.
Herzstück dieser Sicherheits- und Umweltpolitik ist der
sogenannte Anliker-Knigge. Ein knapp 120 Seiten starkes Dokument mit 57
lebenswichtigen und nachhaltigen Regeln. Es deckt alles ab – von der
Instruktion über das Anschlagen von Lasten an Kranen, das Anbringen von
Abschrankungen und Signalisationen bis hin zur korrekten Lagerung von
Chemikalien. «Den Knigge haben wir vor gut sieben Jahren in Eigeninitiative
eingeführt. Er ist für unsere Prävention von zentraler Bedeutung und geht über
die lebenswichtigen Regeln der Suva hinaus», sagt Florian Spichtig. Er ist
Leiter Führungssupport und verantwortlich für das Qualitäts-, Umwelt- und
Arbeitsschutzmanagement.
Regeln, die gelebt werden
Ein umfassendes Kompendium an Arbeitsregeln also. Und wie
verhindert man, dass es nicht in der Schublade verschwindet? «Indem man es in
den Alltag integriert», sagt Spichtig. Darum beginnt jede Anstellung mit der
Überprüfung des Sicherheits- und Umweltwissens und nach der Probezeit folgt
eine eintägige Schulung, bei der alle Regeln für den spartenspezifischen
Einsatz des Mitarbeitenden behandelt werden. Über drei Jahre greift zudem ein
systematischer Schulungsplan, der sämtliche sicherheits- und umweltrelevanten
Themen auffrischt.
Weiter sorgt eine eigens entwickelte E-Learning-App dafür,
dass das Wissen lebendig bleibt: Monat für Monat spielt die App auf die Handys
und Tablets der Mitarbeitenden eine einzelne Regel aus, erklärt sie kompakt und
prüft gleich danach mit einem kurzen Test, ob sie verstanden wurde. «Diese
Tools sind unser Rückgrat», sagt Spichtig. «Aber Sicherheit darf sich nicht im
Abhaken von Listen erschöpfen. Sie muss erlebbar sein. Und zwar im Umgang
miteinander, in der Atmosphäre auf der Baustelle, im Vertrauen ins Team.» Nebst
allen Regelwerken könne Sicherheit deshalb nur funktionieren, wenn
Führungskräfte sie mittragen und eine Kultur fördern, in der offen kommuniziert
und konstruktiv mit Fehlern umgegangen wird, sagt Spichtig weiter.
Das sieht auch QUS-Beauftragter Matthias Knotz so. Er steht
unterdessen auf dem Dach des fünfstöckigen Rohbaus. Die drei Turmdrehkrane
scheinen hier zum Greifen nah. Unten dröhnt noch immer die Vibrationsplatte.
«Vorleben ist alles», sagt er. Sichere sich der Polier auf der Hubarbeitsbühne
nicht mit einem Seil, dann tue es der Bauarbeiter auch nicht. Trage der
Vorarbeiter im Sommer keinen Nackenschutz, verzichte der Rest der Mannschaft
ebenfalls darauf. Im Rahmen dieser Vorbildfunktion hat das Unternehmen einen
besonderen Tag ins Leben gerufen: den Kultur- und Wertetag. Dort diskutieren
Kadermitarbeitende nicht nur miteinander, sondern auch direkt mit CEO Roland
Dubach über Haltung, Verantwortung und darüber, wie Sicherheit nicht bloss
Vorschrift bleibt.
Quelle: Anliker Gruppe, zvg
Die Anliker Gruppe setzt beim Arbeits- und Gesundheitsschutz auf die ISO 45001:2018.
Stress am Arbeitsplatz erhöht das Unfallrisiko
Die Suva geht davon aus, dass arbeitsbedingter Stress in 17 Prozent der Unfälle eine zentrale Rolle spielt. Zeitdruck beispielsweise erhöht das Unfallrisiko um das 1,5-Fache, Konflikte um das 1,8-Fache. Doch was ist eigentlich Stress? Stress ist ein persönliches Empfinden, das entsteht, wenn die Balance zwischen äusseren Anforderungen und den zur Verfügung stehenden Ressourcen eines Menschen nicht ausgeglichen ist. Es gibt also kein allgemeingültiges Mass dafür, was Stress ist und auch nicht alle Menschen empfinden belastende Situationen gleich. Gerät die Balance zwischen Anforderungen und Ressourcen nur kurzfristig ins Wanken, kann sich der Mensch gut davon erholen. Schwieriger und auch gefährlicher wird es, wenn bestimmte Stressoren über längere Zeit aktiv sind und sich überlagern. (Quelle: Suva)
Mehr als Helm und Handschuhe
Und die psychische Gesundheit? «Uns ist bewusst, dass Arbeitsschutzmanagement mehr ist als Checklisten und Schutzkleidung», sagt Florian Spichtig. Sie betreffe auch das Wohlbefinden. «Ein Mitarbeiter, der müde, gestresst oder nicht respektiert wird, ist anfälliger für Fehler». Und Fehler können auf der Baustelle gravierende Folgen haben. Anliker hat deshalb ein Betriebliches Gesundheitsmanagement entwickelt, das ab 2026 gruppenweit umgesetzt wird. Es umfasst Schulungsmodule zu Themen wie Teamgeist, Respekt oder Achtsamkeit – Themen also, die nicht nur die körperliche, sondern auch die mentale Sicherheit stärken. «Nebst dem Schutz auf der Baustelle, geht es uns auch darum,dass jede und jeder gerne zur Arbeit kommt und sich ernstgenommen fühlt», so Spichtig. «Dann entsteht die Aufmerksamkeit, die wir für sichere Abläufe brauchen.»
In Neuendorf hat Matthias Knotz seinen Rundgang inzwischen beendet. Mit dem, was er gesehen hat, ist er zufrieden. Er zieht Helm und Weste aus und macht sich auf den Weg zur nächsten Baustelle, während im Hintergrund der Turmdrehkran zentimetergenau Lasten verschiebt.
* Dieser Beitrag erschien zuvor bei der Schweizerischen Vereinigung für Qualitäts- und Management- Systeme (SQS), www.sqs.ch/de