Europäische Tage des Denkmals: Neue Architektur in alten Gemäuern in Ennenda
Neulich sind die 32. Europäischen Tage des Denkmals zu Ende gegangen. In der Schweiz lockte das diesjährige Thema «Architekturgeschichten» rund 43 000 Gäste an. In Ennenda gab es viel zu erklären. Das urbanisierte Dorf erzählt aber auch ungefragt von sich aus.
Quelle: Manuel Pestalozzi
Die alte Mühle in Ennenda steht am Dorfbach, der als Kanal eigentlich ein Nebenarm der Linth ist.
Schon der Name Ennenda scheint eine Geschichte zu erzählen: Er ist auf die Ortsbezeichnung «ennet der Aa», jenseits des Flusses, zurückzuführen. Wenn immer auf ein Jenseits hingewiesen wird, braucht es ein Diesseits als Ausgangspunkt. In diesem Falle ist das Glarus, der Hauptort des gleichnamigen Kantons. Er befindet sich auf der linken Seite der Linth, deren Gletscher einst das enge Haupttal des Kantons in die alpine Landschaft gegraben hat.
Ennenda, auf der rechten, östlichen Seite des Flusses, bekommt mehr Abendsonne. Hinter dem Ort steigt die bewaldete Bergflanke steil an; das Gemeindegebiet umfasst einen Höhenunterschied von fast 2000 Metern, vom Alpenbrückli (462 m ü. M.) bis zum Schwarzstöckli (2348 m ü. M.). Die Diminutive verniedlichen die gewaltigen Dimensionen ebenso wie die latente Brutalität der Natur. Der Gässlistein im südlichen Talboden der Gemeinde erinnert mit den Ausmassen eines grossen Einfamilienhauses an die permanente Gefahr von Bergstürzen.
Ein ganzes Dorf im Bundesinventar
«Versehrt – Mühle Ennenda» lautete der Titel der Orts- und anschliessenden Hausbegehung, welche der Glarner Heimatschutz anlässlich der 32. Europäischen Tage des Denkmals anbot. Sie erzählte eine intime Architekturgeschichte, berücksichtigte aber auch das Umfeld und den Kontext, ohne welche dieser Geschichte die Würze und vielleicht auch der Sinn fehlen würde.
Quelle: Manuel Pestalozzi
Ummauerte, parkartige Grünräume sind für Ennendas Ortszentrum charakteristisch.
Ennenda ist als Ganzes für alle eine Reise wert, die sich für Architektur und Städtebau interessieren. Praktisch sein ganzes Siedlungsgebiet ist ins Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung (ISOS) eingetragen. Die Entwicklungen, die zu Ennendas verschiedenen Ortsbildern geführt haben, liegen mehr als 100 Jahre zurück.
Lebendige Vormoderne
Das Glarner Dorf, seit der gesamtkantonalen Fusion 2011 zur (Gross-) Gemeinde Glarus gehörend, ist geprägt von Gegensätzen und einer Urbanität, die viele überraschen mag. Beides wurzelt in der Industrialisierung. Der alte Ortskern liegt an der Bergflanke. Oberhalb bimmeln die Kuhglocken, steile Gassen zwischen Trockenmauern steigen durchs Weidland zum Waldrand empor. Die bestehenden Häuser bilden oft kurze, senkrecht zum Hang verlaufende Zeilen. Auch Doppelhäuser, die unter dem gemeinsamen First zweigeteilt sind, trifft man regelmässig an.
Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv
In der historischen Aufnahme aus den 1860er-Jahren ist gut zu erkennen, wie Hänggitürme zum Aufhängen und Trocknen bedruckter Textilien das Ortsbild von Ennenda mitprägten. Noch heute gibt es zwei Exemplare.
Doch das rurale, alpine Bild täuscht. Denn Ennenda war bereits vor der industriellen Revolution ein Dorf, in dem Erzeugnisse verarbeitet und Produkte hergestellt wurden, beispielsweise Schiefertische. Das Dorf spielte auch als Handelsort und Warenumschlagplatz eine bedeutende Rolle. Die bescheidene Prosperität äussert sich im Ortsbild mit freistehenden Palazzi oder ornamentalen Elementen, etwa Fassadenschmuck oder Schweifgiebel.
Zeugen der Blütezeit
Die traditionelle Nutzung der Wasserkraft führte im 19. Jahrhundert zur Errichtung von grösseren Fabriken an der Linth und am Dorfbach. Bei letzterem handelt es sich eigentlich um einen historischen Kanal, der von der Linth abzweigt. Eine wichtige Spezialität war der Stoffdruck. Dank der verbliebenen, prägnanten Hänggitürme, an denen die Stoffe zum Trocknen aufgehängt wurden, ist die Erinnerung an die wirtschaftliche Blütezeit noch immer in der Skyline Ennendas erkennbar. In der Ebene zwischen den Linthufer und dem Ortskern entstanden während dieser Epoche rasterartig angelegte Strassenzüge mit neuen Wohnsiedlungen. Prägend sind die langen, durchlaufenden Fassadenfluchten von Häuserzeilen.
Quelle: Manuel Pestalozzi
Der Strassenzug Neubauquartier in der rechten Bildhälfte und seine Umgebung entstanden während der Ortserweiterung im 19. Jahrhundert.
Die Planung dieser städtisch wirkenden Quartiere wurde beeinflusst von den Folgen des verheerenden Brandes im Nachbarort Glarus im Jahr 1861. Er wurde anschliessend fast vollkommen neu als Rasterstadt aufgebaut. In Ennenda gibt es aus jener Zeit einen Strassenzug mit dem Namen Neubauquartier, es folgt die Villastrasse mit annähernd quadratischen, durch Seitenstrassen getrennten Parzellen. In ihrer Mitte steht jeweils ein repräsentativer Wohnbau, umgeben von einer lauschigen Parkanlage.
Überall ist ein Weg
Wie die Seitenstrassen zwischen den Villen andeuten, ist die öffentliche Durchwegung des Dorfes sehr dicht, man möchte schon fast sagen: exzessiv. Überall gibt es Weglein, Gässchen, Durchgänge in Bauzeilen sowie Treppen, die durch keinerlei Gitter oder Tore gesperrt sind und zu Spazier- oder Rundgängen einladen. Die Dichte wird aufgelockert durch oft parkartige Garten- und Hofräume, die von Zäunen oder schulterhohen, verputzten Mauern eingefasst sind. Vielerorts hat man vom öffentlichen Raum her Anteil an diesen einsehbaren Grünräumen.
Ende des 19. Jahrhunderts galt Ennenda als eine der reichsten Gemeinden der Schweiz. Ein Ausdruck davon ist das Gemeindehaus, ein freistehender Prunkbau im Neorenaissance-Stil. Er steht in der Ebene, zwischen der reformierten Kirche von 1774 und dem Bahnhof. Nach einem Architekturwettbewerb wurde er 1889 bis 1890 erbaut. Das Gemeindehais verfügt über einen Saal für bis zu 1000 Personen. Ennenda hatte damals 2494 Einwohnerinnen und Einwohner.
Quelle: Manuel Pestalozzi
Das Netz an öffentlichen Wegen im Glarner Ort Ennenda ist ausgesprochen engmaschig.
Heute leben im Ort etwas mehr als 2500 Menschen. Der bauliche Zustand aus der Zeit um 1900 ist weitgehend erhalten. Der Siedlungsdruck war im 20. Jahrhundert so gering, dass die Moderne das Ortsbild kaum verändert hat. An peripheren Lagen gibt es zwar neue Schul- und Gewerbeareale und an der Bahnlinie sogar ein Wohnhochhaus. Doch davon abgesehen kann man Ennenda fast als eine Art Museum betrachten. Die Industrie spielt eine weniger dominante Rolle als früher, deutlich mehr Einwohnerinnen und Einwohner pendeln zu einem Arbeitsort ausserhalb des Dorfs. Ein kreativer und konservatorischer Umgang mit der Bausubstanz bietet eine Chance, Ennenda zu einem Wohn- und Arbeitsort zu machen. Diesen pragmatischen Ansatz im Umgang mit dem Bestand machte der Rundgang aus Anlass der Europäischen Tage des Denkmals sicht- und erlebbar.
Modebaum mit Schadenpotenzial
Die «Architekturgeschichten» erzählte selbstredend ein Architekt. Lando Rossmaier ist Wahl-Ennendaner. Er stammt aus Bayern und liess sich 2014 nach einer internationalen Berufskarriere in einem Haus gleich neben der reformierten Kirche nieder. Genau dort startete der Rundgang. Im Lokal des Vorbesitzers des Hauses, des Metzgers Hösli, befindet sich Rossmaiers Atelier, in den Obergeschossen wohnt er. Die Liegenschaft mit klassizistischen Verzierungen besitzt einen der typischen, eingefriedeten kleinen Pärke – mit einer sehr hohen Sequoia, einem Modebaum vergangener Epochen der Gartenkultur. «Für ihn muss man eine spezielle Versicherung abschliessen», erklärte Rossmaier. Denn sollte er hier, im dicht bebauten Ortskern, umstürzen, könnte das erheblichen Schaden anrichten.
Der Rundgang führte zuerst an der Wiese östlich der Kirche entlang. Der Freiraum an zentraler Lage wird mittlerweile rundum von Gebäuden eingefasst. Trotz der im schweizerischen Raumplanungsgesetz enthaltenen Vorgabe einer «inneren Verdichtung» plädiert der politisch engagierte Lando Rossmaier in dieser ausgewiesenen Zone für öffentliche Bauten für einen Park, welcher dem Bestand Luft lässt.
Quelle: Manuel Pestalozzi
Architekt Lando Rossmaier setzt sich dafür ein, dass aus der Freifläche östlich der Kirche in Ennenda ein Park wird.
Weiter ging es auf der Tour vorbei an Liegenschaften, die durch Innenausbauten aufgewertet wurden. Unterwegs wies Rossmaier auf Wohnhäuser hin, die von Volker Marterer, einem weiteren «Neoglarner», diskret hergerichtet wurden. Am Sternenplatz zeigte Rossmaier die grossen, miteinander verbundenen Brunnentröge, die jeweils aus einem Stein bestehen. Den dafür verwendeten, in Ennenda reichlich vorhandenen Stein «roter Risi» (eine andere Bezeichnung für Verrucano) verwendete er auch am Zielort des Rundgangs, der alten Mühle, für Spül- und Waschbecken, Ofen und Arbeitsplatte. «Man sollte das vor Ort Verfügbare nutzen», deklamierte er eines seiner beruflichen Credos.
Schichten abtragen und hinzufügen
Die alte Mühle liegt am rauschenden Dorfbach. Das unauffällige zweigeschossige Gebäude, dessen historische Nutzung nicht mehr erkennbar ist, steht mit anderen kleineren Häusern unterhalb eines der kleinen Palazzi. Nach Südwesten hin wird es jenseits des Dorfbachs und der schmalen Zufahrtsstrasse abgeschirmt von der Rückseite einer der vormodernen Häuserzeilen. Das leerstehende, vernachlässigte Bauwerk wurde zu einem der Patienten von Lando Rossmaier: Mit einer neuen Bauherrschaft erkundete er zunächst sorgfältig die Bausubstanz. «Wir trugen Schicht um Schicht ab», schilderte Rossmaier. Erst so liesseen sich der wahre Charakter des Bauwerks und sein Zustand erkunden. Das vorsichtige Vorantasten ermöglichte schliesslich ein Urteil über die Qualität und die Mängel der Struktur. Die Verantwortlichen kamen zum Schluss, die alte Mühle neu herzurichten. Im Erdgeschoss planten sie ein Goldschmiedeatelier, im Obergeschoss eine Wohnung mit einem angrenzenden, loftartigen, unbeheizten Dachraum. Dieser wiederum ist mit einem von aussen kaum sichtbaren, verglasten Aufbau versehen.
Quelle: Manuel Pestalozzi
Eine neue Treppe erschliesst das Obergeschoss der alten Mühle. Die Wandoberflächen dokumentieren die Spuren der Zeit.
Nach Abschluss der Sanierung präsentiert sich die alte Mühle als veritables Schmuckkästchen. Viele der bestehenden, freigelegten Oberflächen wurden in ihrem ursprünglichen Zustand belassen. So wird auch die lange und wechselvolle Geschichte des Bauwerks erfahrbar. Zu den Eingriffen gehören neue Schichten, die wo immer möglich mit örtlichen Materialien hinzugefügt wurden. So hat man etwa Teile der Fassade gedämmt und mit einem Schindelkleid versehen. Der Boden des Ateliers besteht aus sickerfähigem Kalksand. Waschtische und Arbeitsflächen wurden, wie erwähnt, aus einem dauerhaften Naturstein geformt. Sie könnten das Haus eines Tages überleben und andernorts fortbestehen.
Bestand mit hohem Potenzial
Die Teilnehmenden des Rundgangs durften sich frei durchs Haus bewegen, beteiligte Fachleute erläuterten die Herstellung von Schindeln sowie von Holzbalken, die sich ins bestehende Tragwerk einfügen liessen.
Die Präsentation der Mühle zeigte, was im Bestand alles möglich ist, wenn man von dessen Dauerhaftigkeit überzeugt ist. Der Denkmal-Gedanke war im Falle dieser Sanierung eine Begleiterscheinung. Das Ziel bestand nur teilweise im Erhalt und der Dokumentation der Vergangenheit. Vielmehr wollte man zeigen, was in bestehenden Gebäuden steckt – und was sich aus ihnen herauskitzeln lässt. Es ist keine Frage, dass dieses Verfahren viel Engagement, Liebe und Geduld erfordert. Doch oft kann sich an einer Liebhaberei, die Einzelpersonen mit Leidenschaft vorantreiben, am Schluss auch die Allgemeinheit erfreuen.
Quelle: Manuel Pestalozzi
Das gewählte architektonische Konzept macht die Geschichte der alten Mühle in Ennenda spürbar.