EU-Mittelpunkt in Gadheim: Brexit bescherte Lernenden einmalige Aufgabe
Damit konnten sie nicht rechnen: Plötzlich befand sich der EU-Mittelpunkt direkt neben ihrer Ausbildungsstätte. Die Lernenden packten bei der Gestaltung des urplötzlich geographisch bedeutsamen Ortes auf einem vorher ganz gewöhnlichen Acker tatkräftig mit an.
Quelle: Bernd Sauer St. Markushof
Die Pflasterarbeiten führten die Lernenden deutlich professioneller und effizienter aus, als die Briten ihren fünfmal verschobenen Austritt aus der EU, der Anfang Februar 2020 in Kraft trat.
9°54'07" östlicher Länge und
49°50'35" nördlicher Breite: An diesen Koordinaten liegt ein bis vor einem
Jahr noch recht gewöhnlich wirkender Acker in Gadheim im fränkischen Teil
Bayerns. Mit dem Brexit am 1.Februar 2020 wurde aus einem Punkt mitten im Feld
jäh etwas ganz Besonderes: Der neue geographische Mittelpunkt der EU. So hatte
es das ehrwürdige «Institut national de l’information géographique et forestière»
(IGN) in Paris errechnet.
Seit die Diskussionen um den Brexit vor vier Jahren in Fahrt
kamen, standen immer wieder Fernsehteams auf besagtem Acker herum. Hans
Koppenhagen, Ausbildungs- und Internatsleiter des St.Markushof, einer
Aussenstelle des Berufsbildungswerkes Caritas-Don Bosco Würzburg, hat von
seinem Arbeitsplatz besten Blick auf das Feld und somit auf den plötzlichen
Rummel. «Der Brexit hat sich ja nicht weniger als fünf Mal verschoben. Jedes
Mal, wenn er wieder spruchreif schien, standen von neuem Japaner, Chinesen und
Engländer mit Kameras herum. Anfangs filmten nicht einmal alle auf dem
korrekten Feld. Irgendwann hatten aber alle ihre GPS-Geräte im Griff», erinnert
er sich schmunzelnd.
Ausserdem habe der Bürgermeister alsbald ein kleines EU-Fähnchen an der richtigen Stelle in die Erde gesteckt, das habe sicher nicht geschadet. Mit wachsendem Journalistenandrang wurde den Gadheimern klar, dass sie etwas unternehmen mussten. Der städtische Bauhof überlegte, wie man das Feld ausgestalten könnte, damit es etwas mehr hermachte.
Lehrlinge packen mit an
Die Gemeinde pachtete kurzerhand 1000 Quadratmeter des
besagten Feldes von der Bäuerin – die übrigens im Internat des Lehrlingsheims
arbeitet. Da am St.Markushof zwanzig Lehrlinge im Garten- und Landschaftsbau
und nochmals so viele im Garten- und Zierpflanzenbau ausgebildet werden,
packten diese alsbald bei der Ausgestaltung des Mittelpunkts tatkräftig mit an.
Der Veitshöchheimer Bauhof zeichnete Pläne für die
Ausgestaltung und die Lehrlinge legten nach diesen Vorgaben einen Weg mit
wassergebundener Schotterdecke an, verlegten Schrittplatten und
Natursteinpflaster und pflasterten ein Rondell. Zudem gossen sie die
Fahnenfundamente. Die EU-Fahne musste ja irgendwo hineingesteckt werden. Zum
Abschluss installierten sie noch einen Muschelkalk-Findling am errechneten
Punkt. Diesen ziert nun eine weiss-rot-geringelte Stange, ein Fluchtstab, wie
ihn die Landvermesser verwenden.
Koppenhagen rechnet vor: «Wir haben etwa zehn Arbeitstage investiert. Es waren jeweils ein Ausbilder und sechs Azubis aus allen Lehrjahren vor Ort.» Zudem lockerten die Lernenden den Boden, bereiteten die Vegetationsflächen vor und mulchten die Pflanzflächen. Die Pflanzarbeiten selbst erfolgten dann gemeinsam mit den Mitarbeitenden des Bauhofs.
Ausbildungsrelevante Arbeiten
«Alle ausgeführten Arbeiten sind ausbildungsrelevant und konnten hier praxisorientiert mit den Ausbildungsgruppen umgesetzt werden. Nicht viele Garten- und Landschaftsbauer können von sich behaupten, am geographischen Mittelpunkt der EU mitgearbeitet zu haben», fasst Koppenhagen zusammen. Die Arbeit der Lehrlinge, fast alle aus dem dritten Lehrjahr, erfüllt ihren Zweck bestens. Und, wie Koppenhagen im Telefonat zufrieden vermeldet: Sie alle haben unterdessen auch ihre Gesellenprüfung in der Tasche.
Und was, falls sich der Mittelpunkt erneut verschiebt, weil etwa Schottland das Referendum ergreift? Die Arbeit der Lernenden war auf keinen Fall vergebens. Sollte der Fall eintreten, machen die Gadheimer ein Mahnmal draus – für die Einigkeit der EU. Das zumindest hat der Bürgermeister neulich zum Bayerischen Fernsehen gesagt.
Touristisch hat das Ganze Gadheim allerdings nur wenig gebracht. Koppenhagen berichtet: «Anfangs hatten wir unerwartet viele Besucher, zwischen 80 und 150 jedes Wochenende. Mittlerweile ist es ruhiger geworden. Es kommen noch so zwanzig bis vierzig.» Was er aber bedauert: «Viele fahren unerlaubterweise über die Feldwege direkt bis zum Mittelpunkt. Da steigen sie aus, machen Fotos und weg sind sie. Dabei hätten wir im Ort, wenige Minuten entfernt, wirklich genug Parkplätze.»
Dieser Artikel ist zuerst im «g’plus-Magazin» erschienen.
Der wandernde EU-Mittelpunkt: Von einer Stadt zur andern
Quelle: Vincent Anciaux wikimedia CC BY 2.0
EU-Mittelpunkt in Viroinval.
Viroinval 1995 – 2004
Der EU-Mittelpunkt zieht mit jedem Gemeinschaftszuwachs weiter. So lag er von 1995 bis 2004, als die EU nur 15 Mitgliedsstaaten hatte, bei Viroinval im Süden Belgiens. Jeder Ort lässt sich etwas einfallen, um den Punkt landschaftsgärtnerisch auszugestalten.
Quelle: Gemeinfrei
EU-Mittelpunkt in Kleinmaischeid.
Kleinmaischeid 2004 – 2006
Ab 2004 kam im Zuge der EU-Osterweiterung kam die Ehre für den Mittelpunkt Kleinmaischeid in der Nähe von Koblenz zu. Der Ort leistete sich hierfür einen Gedenkstein mit Zirkel als Markierung, der zwei Jahre lang seinen Dienst tat.
Quelle: NearEMPTiness wikimedia CC BY-SA 3.0
EU-Mittelpunkt in Meerholz.
Meerholz 2006 – 2013
Als Bulgarien und Rumänien dazukamen, wurde Meerholz, ein Stadtteil von Gelnhausen in Osthessen, zum Mittelpunkt. Daraufhin wurde dort eine drei Tonnen schwere Skulptur aus rotem Sandstein erstellt. Das Herzstück des Objekts bildet ein Hohlkörper, der Sand und Erde aus den damals 27 EU-Mitgliedsstaaten beinhaltet.
Quelle: Geyersberg wikimedia CC BY-SA 4.0
EU-Mittelpunkt in Westerngrund.
Westerngrund 2013 – 2020
2013 sorgte Kroatien für den Umzug des Mittelpunkts um rund zehn Kilometer in südlicher Richtung nach Westerngrund in Bayern. Der Ort konnte seinen Status als EU-Mittelpunkt übrigens schon einmal verteidigen. Dies, als kurz nach Kroatien das französische Überseedepartement Mayotte der EU beitrat. Dann verschob sich der Mittelpunkt zwar, aber nur um 500 Meter.
Quelle: zVg St. Markushof
Die Lernenden hatten ihre Ausbildungsstätte per Zufall in Sichtweite des neuen EU-Mittelpunkts im fränkischen Gadheim. Sie packten bei der Ausgestaltung des Platzes zusammen mit dem Bauhof tatkräftig mit an.
Gadheim 2020 – heute
Der Brexit führte nun erstmals zu einem Schrumpfen der EU. Der EU-Mittelpunkt bleibt aber trotzdem in Bayern. Er liegt nun im 80-Einwohner-Dörfchen Gadheim, das zu Veitshöchheim gehört.