Studienauftrag Hiag-Areal in Pratteln: Wandel und Kontinuität
Das rund 31 500 Quadratmeter grosse Industrieareal der
ehemaligen Rohner AG in Pratteln soll in einen durchmischten Quartierteil
transformiert werden. Die Arealentwicklerin Hiag bereitet nach einem
Studienauftragsverfahren einen Quartierplan vor. Die industrielle Vergangenheit
bleibt spürbar.

Quelle: Buchner Bründler Architekten
Im Vorschlag zieht sich von Osten nach Westen ein Grünraum quer durch das Areal, bis zum Ersatzneubau am ungefähren Standort des «Prattler Hilton».
Die Chemische Fabrik Rohner AG war lange eines der
Wahrzeichen von Basels Industrievorort Pratteln. Intercitypassagieren dürften
die grossen Zweckbauten westlich des Bahnhofs geläufig sein – insbesondere das
«Prattler Hilton», der zehngeschossige, sorgfältig durchdetaillierte
Industriebau aus den frühen 1970er-Jahren mit seinen umlaufenden
Fluchtbalkonen. Ein Teil der Gebäude wurde bereits abgerissen, da der gesamte
Bestand aufgrund der Schadstoffkontamination rückgebaut werden muss.
Die Geschichte des Unternehmens ist eng mit jener des Orts
verbunden. Von Josef Rohner 1906 am aktuellen Standort in Pratteln gegründet,
blieb es während drei Generationen in der Familie. Der Baubestand auf dem Areal
wurde laufend aktualisiert. Nach der Veräusserung an neue Eigentümer im Jahr
1988 fanden wiederholt Besitzerwechsel statt. Eine Explosion 2016, Berichte von
Liquiditätsengpässen und eine mutmassliche Grundwasserverschmutzung sorgten
wiederholt für Negativschlagzeilen. 2019 musste die Rohner AG ihren Betrieb
einstellen. Zu diesem Zeitpunkt war das Unternehmen nur noch Mieterin, bereits
ein Jahr zuvor hatte die Arealentwicklerin Hiag das Grundstück gekauft, mit dem
Gedanken, eine langsame Transformation einzuleiten. Aufgrund der Ereignisse
geht diese nun schneller voran.

Quelle: Buchner Bründler Architekten
Das Areal befindet sich zwischen dem Gleisfeld der SBB und der Trasse der Strassenbahn. Die neue Bebauung soll eine hohe Dichte aufweisen. Gestalterische Details erinnern an die frühere Nutzung.
Ein neuer Quartierschwerpunkt
Das Areal liegt südlich des Gleisfelds von Prattelns Bahnhof
und der Güterstrasse, die südliche Begrenzung bildet die parallel dazu
verlaufende Schottertrasse des Trams der Basler Verkehrsbetriebe und die sie
begleitende Baslerstrasse. Auf der anderen Seite der Baslerstrasse beginnt ein
ausgedehntes Wohngebiet mit eher niedriger Dichte. An dieser gut erschlossenen
Lage will Hiag einen durchmischten, lebendigen Teil eines neuen
Bahnhofsquartiers mit Fokus auf einen qualitätsvollen, urbanen Wohnraum sowie
einen Arbeitsstandort für dienstleistungsorientierte, forschende oder
produzierende Unternehmen entstehen lassen.
Zur Erarbeitung einer neuen, prägnanten
«Entwicklungsvision», welche dem Areal aufgrund der räumlichen und funktionalen
Potenziale eine unverkennbare neue Identität verleiht, erteilte die
Arealentwicklerin 2020 einen Studienauftrag. Dieser erfolgte im
Einladungsverfahren in zwei Stufen. In einer ersten Phase nahmen acht
Planungsteams teil. Nach einer Begutachtung der Vorschläge im Juni 2020 wurden
fünf von ihnen zur zweiten Phase zugelassen.
Das Beurteilungsgremium begutachtete die Überarbeitungen
drei Monate später. Die Beurteilungskriterien betrafen Städtebau und Freiraum,
Architektur und Nutzungen, Verkehr/Mobilität, Wirtschaftlichkeit/Etappierung
sowie Umweltanliegen. Nach drei Rundgängen beantragte das Beurteilungsgremium
einstimmig, das Projekt des Planungsteams Buchner Bründler Architekten AG,
Basel, und Berchtold.Lenzin Landschaftsarchitekten, Zürich und Basel, in der
Weiterbearbeitung zu berücksichtigen.

Quelle: Buchner Bründler Architekten
Im Plan des Vorschlags fällt die Vielfalt an öffentlichen Aussenräumen auf. Auch das einstige Kantinengebäude der Rohner AG, das nicht zum Hiag-Areal gehört, aber an dessen östlichen Rand grenzt, wurde mit einbezogen.
Dichte mit Vielfalt
Die Erläuterung des siegreichen Vorschlags durch das
Beurteilungsgremium gibt Einsicht in den Sinn der zwei Stufen des Verfahrens:
Sie erlauben eine Nachbesserung. In der ersten Phase sah das Entwurfsteam vor,
mit seinem Projektvorschlag an die Industriegeschichte des Areals anzuknüpfen
und mehrere Bestandesbauten zu erhalten. Bei der Präsentation musste es
erfahren, dass aufgrund der Kontamination des Areals durch die chemische
Industrie der Erhalt und Umbau des Bestands keine Option war. In der Folge
wurde der Vorschlag dahingehend uminterpretiert, dass nun Massstabssprünge, die
das historische Areal prägten, thematisiert wurden. Die Heterogenität der
bisherigen Bebauung soll auch für die Gestaltung des neuen Quartierteils als
eine Bereicherung beibehalten werden.
Der definitive Vorschlag platziert gekonnt langgezogene
Volumen und solche mit einem punktförmigen Grundriss auf dem Areal. Die
gerichteten Bauten folgen im nördlichen Arealteil in zwei Zeilen der Orientierung
der Gleise von Bahn und Tram von Ost nach West. Sie schaffen eine
grundsätzliche Höhenstaffelung; nach Süden, zum angrenzenden Wohngebiet, werden
die Bauten generell niedriger. Auf die zwei Zeilen folgt am Südrand eine
«Punktreihe». In diesen parallel verlaufenden Längszügen öffnen sich
Zwischenräume, die als Gassen oder Parks dienen sollen, wobei es auch drei
Sicht- und Wegschneisen von Norden nach Süden gibt.
Quer zu dieser Grundordnung steht der neue, 15-geschossige
Längsbau «G 40», der in etwa den Standort und die Dimensionen des «Prattler
Hilton» einnimmt. Er schliesst die Freiräume im Bereich der Längstrakte nach
Westen ab, besitzt allerdings einen breiten, offenen Durchgang im Erdgeschoss.
Westlich von ihm sieht der Vorschlag einen 22-geschossigen Turm vor. Er ist das
höchste Gebäude und befindet sich nicht im aktuellen Planungsperimeter für das
Richtprojekt. Der Vorschlag ist als längerfristige Entwicklungsoption zu
verstehen. Er wird momentan nicht weiterverfolgt. Mit 15 Geschossen setzt das
«Hohe Haus» als östliches Ende der südlichen «Punktreihe» einen weiteren
Höhenakzent.
Die nördliche Zeile wird durch das «Werkhaus» und das
«Güterhaus» gebildet. Sie sind, wie ihre Namen erahnen lassen, für gewerbliche
Nutzungen vorgesehen und bilden für das Areal einen Lärmschutz gegen das
Gleisfeld. Am westlichen Ende der von ihnen gebildeten Zeile steht, aus der
Flucht etwas vorgerückt, noch ein punktförmiges «Atelierhaus». Es folgt eine
Werkgasse mit Plattenbelag und anschliessend das achtgeschossige «Lange Haus»,
welches analog zu «G 40» zwei öffentliche Durchgänge aufweist. Zwischen ihm und
der «Punktreihe» erstreckt sich ein Park mit einem pavillonartigen Café und
einem Wasserspiel.
Die «Punktreihe» schliesslich enthält weitere pavillonartige
Strukturen mit Raumangeboten für Events, Kinder und sportliche Tätigkeiten
unter einem schützenden Dach. Das erwähnte «Hohe Haus» beendet die Reihe.
Abgesehen von der nördlichen Zeile sind in den Gebäuden Wohnungen geplant, im
«Langen Haus», das man für Mietwohnungen optimal geeignet sieht, sogar im etwas
erhöhten Erdgeschoss am Park.

Quelle: Buchner Bründler Architekten
Die Ansichten von Süden und von Westen zeigen die Höhenabstufung und die unterschiedliche architektonische Ausformulierung der vorgeschlagenen Neubauten, die im nahezu ebenen Gelände stehen.
Begegnungsort mit Erkennungsmerkmalen
Die Erschliessung des grundsätzlich autofreien Areals
erfolgt primär über die Güterstrasse entlang dem Gleisfeld. Über sie soll eine
zweigeschossige Tiefgarage erschlossen werden, welche die Gewerbebauten und das
«Lange Haus» miteinander verbindet. Fuss- und Veloverkehr haben auch vom Süden
und Osten Zugang, von Süden allerdings nur an den entgegengesetzten Ecken; die
Tramtrasse auf ihrem Schotterstreifen erweist sich als schwer überwindbare
Trennlinie zur Nachbarschaft. Von Osten soll der Zugang vorbei am
Kantinengebäude der Rohner AG aus dem Jahr 1954 erfolgen. Der im
Hinweisinventar BIB (Bauinventar BL) als schützenswertes Objekt erfasste Bau
gehört nicht der Hiag, wurde aber in den Entwurfsperimeter des Studienauftrags
integriert. Das Entwurfsteam hat hier eine Kantinennutzung und einen
Kantinengarten vorgeschlagen. Auch dieser Bereich ist aber nicht im aktuellen
Planungsperimeter für das Richtprojekt.
Ein Freiraumplan mit den Erdgeschossnutzungen zeigt, wie
sich das neue Quartier als Begegnungsort etablieren möchte. Im «Güterhaus»
könnte eine Markthalle eingerichtet werden, ins «Lange Haus lassen sich
beispielsweise ein Gymnastikraum und ein Gemeinschaftsraum integrieren. Im «G
40» sieht das Entwurfsteam eine Velowerkstatt und weitere Ateliers vor, im
«Hohen Haus» einen Kiosk. Zusammen mit den erwähnten Kinder- und Sportstätten
ergibt sich auf dem Weg- und Platzniveau ein vielfältiges Angebot, das auch
Menschen aus benachbarten Quartieren anziehen soll.
In der Gestalt und in den Dimensionen erscheint das Areal in
diesem Vorschlag noch immer als dem Industriegebiet zugehörig, die Tramtrasse
mit der Baslerstrasse erscheint in den Bilddarstellungen nicht nur bei der
Durchwegung, sondern auch bei der Siedlungsgestalt als eine harte Grenze. Diese
Zuordnung ist durchaus gewollt: Für die Architektur entwickelte das
Entwurfsteam einen arealspezifischen architektonischen «Baukasten». Mit ihm
soll sich die Entwicklung, die in der industriellen Vergangenheit begann,
stimmig fortsetzen. Das erleichtert auch eine sinnvolle Etappierung des
geplanten Wandels.
Durch formale Anleihen soll subtil mit Erinnerungen an die
industrielle Vergangenheit gearbeitet werden. Neben der Differenzierung bei den
Ausmassen der einzelnen Gebäude operiert der Vorschlag mit Shed-Dächern,
aussenliegenden Stahltreppen oder simplen, pragmatischen Schutzvorrichtungen.
Damit soll neben der höheren Dichte eine spezifische Form der Urbanität, aber
auch eine neue Identität geschaffen werden.

Quelle: Buchner Bründler Architekten
Die Werkgasse verläuft zwischen dem Wohn und dem Büro- und Gewerbeteil. Im Holzbau unter dem «Langen Haus» sieht das Studienauftrags-Projekt einen Gemeinschaftsraum vor.
Nachgefragt ... bei Annette Hansen

Quelle: Gian Marco Castelberg
Annette Hansen ist Architektin, Immobilienentwicklerin und als Projektleiterin für die Arealentwicklung auf dem Areal in Pratteln zuständig.
Was hat Hiag dazu bewogen, dieses Areal in Pratteln zu
erstehen?
Annette Hansen: Hiag hat sich auf die Entwicklung von
Industriearealen spezialisiert. Das Hiag-Areal in Pratteln befindet sich an
sehr guter Lage in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof Pratteln. Es bietet somit
grosses Potenzial für eine nachhaltige Entwicklung und Neupositionierung.
Wer soll in Ihren Augen in dieses Areal investieren? Wer
soll es wie nutzen? Gab es da von Beginn an konkrete Vorstellungen? Oder
lieferte der Studienauftrag diesbezüglich neue Anregungen?
Hiag sucht nicht den kurzfristigen Erfolg, sondern investiert
langfristig in ihre Projekte. Sie bleibt somit Eigentümerin des Areals.
Eventuell wird ein Teil der Wohnungen im Stockwerkeigentum veräussert, das
Interesse und der Bedarf dafür sind in Pratteln gross.
Im Sinne der Diversität ist ein vielseitiger Mix an Wohnformen für ein breites
Zielpublikum angedacht – von studentischem oder experimentellem Wohnen bis hin
zu klassischen Mietwohnungen ist alles denkbar. Etwa ein Drittel der Flächen
ist für Gewerbenutzungen vorgesehen. Auch hier können wir uns einen breiten Mix
vorstellen. Die «Werkgasse» soll durch Kleingewerbe und Handwerksbetriebe
belebt werden. Mögliche Nutzungen wurden bereits vor Ausschreibung des
Studienauftrags definiert, im Rahmen des Studienauftrags und des Richtprojekts
wurden die Vorstellungen weiter geschärft. Da der Planungsprozess noch einige
Zeit in Anspruch nimmt, geht es aktuell darum, im Quartierplan Qualitäten zu
sichern, ohne eine gewisse Flexibilität für die Zukunft zu verlieren.
Was macht die Attraktion von Pratteln jenseits des Areals
für Sie und Ihre potenzielle Kundschaft aus?
Pratteln ist nicht nur als Wohnort ein attraktiver Standort.
Die Ortschaft weist auch eine positive Arbeitspendlerbilanz auf und ist eine
lebendige, ausgezeichnet erschlossene Gemeinde in landschaftlich reizvoller
Umgebung.
Der siegreiche Vorschlag des Studienauftrags hat einen
Inselcharakter, er scheint für Pratteln etwas Neues zu bringen. Wie stellen Sie
und die Gemeinde sicher, dass diese «Insel» mit dem Ort zusammenwächst?
Das Siegerprojekt des Studienauftrags hat uns überzeugt,
weil es sehr darauf achtet, dass sich das ehemals abgeschlossene Areal nach
aussen öffnet und nicht für sich alleine steht. Wir wollen einen Ort
entwickeln, welcher das bestehende Bahnhofquartier ergänzt und Teil seiner
Umgebung wird. Daher legen wir besonderes Augenmerk auf die Erschliessung für
Fussgänger und Velos, auf den Aussenraum mit grosszügigem Park, welcher für die
Öffentlichkeit zugänglich sein wird, und auf Nutzungen, welche das bestehende
Angebot sinnvoll ergänzen. Aktuell wird auch die Möglichkeit eines zusätzlichen
Tramübergangs geprüft. Wir pflegen ausserdem einen intensiven Austausch mit der
Gemeinde und den Nachbarn. Ende September 2021 fand die zweite
Dialogveranstaltung statt, welche Interessierten die Möglichkeit gab,
Rückmeldungen zu geben und Ideen anzuregen. Diesen Prozess werden wir weiter
fortführen.
Aufgrund der Kontaminierung des Geländes werden alle
Bestandesbauten auf dem Areal entfernt. Wie schlägt sich das in der Ökobilanz
des Entwicklungsprojekts und im Preis der Neubauten nieder?
Nachhaltigkeit hat bei Hiag grundsätzlich einen hohen
Stellenwert, indem wir beispielsweise sehr auf die CO2-Bilanz, den Einsatz
erneuerbarer Energien und geeigneter Baumaterialien achten. Auch streben wir
bei unseren Entwicklungen immer an, den Bestand weiter zu nutzen – dies ganz im
Sinne der Zielsetzung der Kreislaufwirtschaft, Abfälle zu vermeiden und
Ressourcen zu schonen. Im Rahmen des Studienauftrags wurde untersucht, ob
zumindest das «Gebäude 39» («Prattler Hilton») erhalten bleiben kann. Aufgrund
der Gebäudeschadstoffe war dies leider nicht möglich. Umso wichtiger ist es
uns, dem Thema Nachhaltigkeit sehr früh im Planungsprozess ein entsprechendes
Gewicht zu geben. So erstellen wir aktuell unter Beizug verschiedener Spezialisten
einen Katalog an Nachhaltigkeitszielen – zum Beispiel die Reduktion der
fossilen Mobilität sowie die Senkung der CO2-Emmissionen bei der
Energieerzeugung – und untersuchen verschiedene Möglichkeiten zur Vermeidung
von Hitzeinseln. Auf die zukünftige Preisgestaltung bei den Neubauten hat der
Rückbau keinen Einfluss. Die Kosten dafür wurden bereits abgeschrieben, und die
Entwicklung steht auf einer soliden Basis.
Wie geht es weiter mit diesem Projekt? Lässt sich schon
abschätzen, wann mit der Neubebauung begonnen werden kann?
Aktuell schliessen wir das Richtprojekt ab, welches die
Basis für den notwendigen Quartierplan bilden wird. Aus heutiger Sicht gehen
wir davon aus, dass frühestens 2024 mit dem Bau der ersten Etappe begonnen
werden kann. (mp)