Gletschergarten Luzern: Neue Passage zum höchsten Punkt des Areals
Der Gletschergarten Luzern hat sich eine neue Passage zum
höchsten Punkt des Areals ins massive Gestein sprengen lassen. Die mit Herzblut
und grossem Engagement realisierte Felsenwelt wurde Mitte Juli eröffnet. Sie
verspricht einen Erlebnisreichtum auf vielen Ebenen. Auch die Qualitäten des
Werkstoffs Beton kommen gebührend zur Geltung.

Quelle: Manuel Pestalozzi
In der Sommerau stehen sich der Ausgang des Lifts und der fast kristallin wirkende Rand des Treppenaufgangs gegenüber.
Die neue Attraktion reiht sich nahtlos in die Geschichte des
Gletschergartens ein. Von Beginn weg vermischte sich dort Didaktik mit
Unterhaltung. Und seit seiner Eröffnung im Jahr 1873 dokumentierte der
Gletschergarten Luzern die Wunder der Natur und gleichzeitig die durch den
Mensch erfolgten Eingriffe. Er befindet sich an der steil abfallenden
Westflanke des Wesemlin-Hügels, der der nahen Stadt über Jahr-hunderte als
Steinbruch gediente.
Nur wenige Schritte trennen den Gletschergarten von der
Flanierpromenade am Schweizerhofquai. Seine Adresse lautet Denkmalstrasse, denn
unmittelbar südlich von ihm wurde genau vor 200 Jahren in der aufragenden
Sandsteinwand das Löwendenkmal eingeweiht. Es erinnert an die während der
französischen Revolution beim Tuileriensturm in Paris im Dienste des Königs
gefallenen Schweizergardisten.

Quelle: Gletschergarten Luzern
Der Weg durch das Gestein ist ein integraler Teil des Gletschergartens. Er führt vom Schweizerhaus zur Sommerau, dem höchsten Punkt des Areals.
Direkt nördlich des Denkmals wollte rund fünfzig Jahre
später ein Kaufmann seine Weinhandlung bauen. Bei den Fundierungsarbeiten kamen
im felsigen Untergrund prähistorische Gletschertöpfe zum Vorschein. Sie wurden
in der Folge frei-gelegt und als «Gletschergarten» zugänglich gemacht. Seither
ist die pittoreske Mondlandschaft unter der schroffen, jählings aufragenden
Hügelflanke ein beliebtes Ziel für Touristen und Schulklassen. Sie gewährt
einen direkten Einblick in die Erdgeschichte.
Das ungewöhnliche Landschaftserlebnis neben dem
Löwendenkmal, ganz in der Nähe von anderen Sehenswürdigkeiten wie dem
Bourbakipanorama, ist Bestandteil des Besuchsprogramms vieler Luzerner Gäste.
Die Anlage wurde über die Jahrzehnte durch weitere Attraktionen und diverses
Sammelgut ergänzt. Viele stillen hier den naturwissenschaftlichen Wissensdurst,
den die Gletschertöpfe geweckt haben.

Quelle: Manuel Pestalozzi
Das Portal zur neuen Felsenwelt besteht aus Betonplatten und -blöcken, die um 55 Grad gekippt sind. Die Schräge entspricht der Richtung des Schichtenverlaufs im Gestein und ist als gestalterisches Thema überall erkennbar.
Andere wollen einfach Spass bereiten. Zur letzten Gruppe
zählt das legendäre Spiegellabyrinth im maurischen Stil, welches nach der
Schweizerischen Landes-ausstellung in Genf von 1896 angekauft wurde – immerhin
kann es als «Palais des Glaces» einen sprachlichen Bezug zu den Gletschern
geltend machen.
Ein «Saumpfad» wurde in den felsigen Hang gelegt, über den
sich der Wesemlinbach in eine Abfolge von Wasserbecken stürzt. Der schmale
Fussweg führt vorbei an diversen Stationen, darunter ein hölzerner
Aussichtsturm, und endet in der Sommerau, einem kleinen Park über der
Hangflanke. Er bietet eine schöne Sicht auf die Stadt und in die Bergwelt.
Ursprüngliche, teilweise nachgebesserte Natur und urbane Zivilisation, Bildung
und Vergnügen vermischen sich im Gletschergarten seit 150 Jahren auf
eigenwillige, ungewöhnliche Weise. Die jetzt eröffnete neue Felsenwelt wurde
genau in diesem Geist realisiert.

Quelle: Manuel Pestalozzi
Über eine sorgfältig freigelegte Gleitschicht im Fels tanzt ein digitaler Punktwolkensturm, der gelegentlich Konturenhistorischer Fauna, etwa jene eines Urelefanten, annimmt.
Geplante Erlebniserweiterung
Als Familienbetrieb erstellt und während zwei Generationen
als solcher geführt, ging das Eigentum des Gletschergartens 1930 an eine
Stiftung über, welche die Entdeckungen und ihre Zugänglichkeit bewahren soll.
Der Hauptzweck der Anlage sind die Erläuterungen zur Erdgeschichte. Der
Regierungsrat des Kantons Luzern stellte 1999 auf Antrag der kantonalen
Denkmalpflege-Kommission und im Einvernehmen mit der Trägerstiftung und der
Stadt diverse Bauten auf dem Areal unter kantonalen Denkmalschutz.
Ende des vergangenen Jahrhunderts begann sich die Stiftung
Gedanken zur Zukunft des Gletschergartens zu machen. Die nun, nach drei Jahren
Bau und 460 behutsam platzierten und dosierten Sprengungen, realisierte
Felsenwelt ist als sensationellster Teil der Erneuerung das Resultat eines
längeren Prozesses, der den Beteiligten viel Beharrlichkeit und Grips
abverlangte.

Quelle: Manuel Pestalozzi
Der sanft abfallende Weg endet in einer Kaverne mit einem See, dessen Wasser sich auf Knopfdruck animieren lässt.
Anlässlich einer Medienbegehung liess Corinne Fischer,
Präsidentin der Stiftung, einen Tag vor der offiziellen Eröffnung die Planungs-
und Realisierungszeit Revue passieren. Neben der Vision, die Ereignisse der
Erdgeschichte mit modernen, Aufsehen erregenden Mitteln zu präsentieren, war
die Frage der Finanzierbarkeit ein Thema. Die Stiftung setzte eine
unverrückbare Kostenobergrenze von 20 Millionen Franken, ein Betrag, den sie
nicht alleine aufbringen konnte.
Die Suche nach Geldgebern erwies sich als erfolgreich. Erste
namhafte Gönner bewegten die öffentliche Hand dazu, einen «Sockelbetrag» von 16
Millionen Franken beizusteuern. «Dank der etwa 500 Donatorinnen und Donatoren
ist die Erneuerung jetzt zu 99 Prozent finanziert», resümierte Corinne Fischer.
Um den Kostenrahmen einzuhalten, musste das Projekt
«geknetet» und optimiert werden, es waren auch Kompromisse nötig. Aber die vom
Geologen Franz Schenker angeregte Vision, die Erdgeschichte auf einem neuen Weg
durch das Gestein physisch spürbar zu machen, ist Realität geworden und bietet
dem Publikum ein einmaliges, spektakuläres Erlebnis.

Quelle: Miller & Maranta AG
Der Eingang zur Felsenwelt liegt zwischen dem Spiegellabyrinth und dem neuen Sandsteinpavillon. Durch Knicke ist der Weg zur Kaverne in regelmässige Abschnitte gegliedert.
Keine Architektur
Die architektonische Umsetzung der Erneuerung wurde vor mehr
als zehn Jahren dem Architekturbüro Miller & Maranta AG aus Basel
anvertraut. Zum Konzept gehören die «Befreiung» des geschützten
Schweizerhauses, dem einstigen Wohnhaus der Gründerfamilie, von diversen
Anbauten, ein schlichter neuer Eingangs-pavillon zum Spiegellabyrinth, das in
der Hangflanke verborgen liegt, und ein neuer Sandsteinpavillon am Nordrand des
Areals. Die Fertigstellung des Betonmonoliths für Ausstellungen, gebaut mit
Aushubmaterial des neuen Wegs ins Erdreich, ist auf Ende dieses Jahres geplant.
Nach der Meinung des Architekten Quintus Miller sein der von
seinem Büro geplante Weg durch die Sandsteinschichten keine Architektur: «Es
ist etwas anderes». Er stellte Bezüge her zu den Wunderkammern der Renaissance
und sprach von einer neuen Zeitschicht, die sein Team in das Areal eingefügt
hat.

Quelle: Miller & Maranta AG
Die Höhe der verschiedenen Wegabschnitte variiert, die anschliessende Treppenskulptur wird durch einen Schacht seitlich mit Tageslicht versorgt.
Das gebotene Erlebnis erinnere an die Zukunftsromane von
Jules Verne aus dem 19. Jahrhundert, in denen mit Wagemut in unbekannte Höhen
und Tiefen, etwa zum Mittelpunkt der Erde, vorgedrungen wird. Die Felsenwelt
bedeute eine Verschmelzung von Natur und Architektur, so Miller, wie man es vom
Felsentempel in Petra in Jordanien kenne oder vom Parc des Buttes-Chaumont in
Paris, der in einem alten Steinbruch angelegt wurde. Die Szenographie der neuen
Attraktion leistet ebenfalls einen Beitrag zu dem in jeder Hinsicht tiefen
Erlebnis, das nun im Gletschergarten gemacht werden kann.

Quelle: Manuel Pestalozzi
Im Lichtschacht des Treppenaufgangs treffen Beton und Gestein aufeinander. Die Ankerplatten machen den menschlichen Eingriff erkennbar.
Durchs Betonportal in den Stein
Die Felsenwelt wird gegenüber dem Schweizerhaus durch ein
expressives Ortbetonportal betreten. Dieses besteht aus schrägen Blöcken und
Platten, die zwei rechteckige Öffnungen einfassen. Das Kippen der Öffnungen um
55 Grad entspricht dem Verlauf der Sandsteinschichten im Fels; die schrägen
Ebenen bestimmen auch die Hohlform der in das Gestein geschlagenen Gewölbe.
Diese wurden mit viel Handarbeit modelliert, wie
Stiftungspräsidentin Corinne Fischer erklärte. Der Weg durch die Unterwelt
führt in neun aufeinander folgenden Knicken von rund 90 Grad sanft abwärts.
Dieser Verlauf teilt die Strecke in eine regelmässige Abfolge von gut
proportionierten, unterschiedlich hohen Felskammern, die sich thematisch
gliedern lassen.
Die überschaubaren Etappen wirken auch einem möglichen
Gefühl der Klaustrophobie entgegen. Am tiefsten Punkt finden sich die
Besucherinnen und Besucher in einer Kaverne mit einem See wieder. Dieser wird
mit Regenwasser gespiesen, das sich über einen künstlich erzeugten Wasserwirbel
animieren lässt.
Von dieser Kaverne führen ein Lift und eine skulpturale
Treppe empor zur Sommerau. Neben der Treppe verläuft ein nach oben offener
Lichtschacht. Bei der Gestaltung dieses Aufstiegs kam viel Ortbeton zum
Einsatz, wiederum um 55 Grad abgeschrägt. Architekt Miller wies auf das Können
hin, welche für die Schalung, Armierung und das einwandfreie Einbringen des
Betons erforderlich war.
Das Ergebnis ist eine vielfältige, doch geometrisch präzise
Zackensilhouette, die in der Sommerau aus dem Gestein dringt und in seiner
Wirkung – im Gegensatz zum feinkörnigen, teilweise speckigen Sandstein –
kristallin anmutet. Der menschliche Eingriff grenzt sich mit dieser
Intervention dezidiert von der Natur ab.
Perfekte Inszenierung
Die Felsenwelt führt das Publikum zuerst in die Tiefe und
anschliessend steil empor, zum Licht und zum höchsten Punkt des Areals, von wo
man die Sicht auf die Stadt und den Gletschergarten hat. Von der Sommerau führt
der «Saumpfad» wieder hinab zum Schweizer Haus. Wer auf einen schwellenlosen
Rückweg angewiesen hat, benutzt den Lift.
Selbstverständlich bietet die Felsenwelt mehr als einen
Spaziergang. Didaktisches und das Unterhaltsames wurden in den Weg integriert.
Dies geschah mit modernster Technik und zurückhaltend – die Inszenierungen
unter der Regie des Velvet Creative Office, Luzern, sollen die Natur nicht
konkurrenzieren oder ihr gar den Rang ablaufen.

Quelle: Manuel Pestalozzi
Architekt Quintus Miller wies beim Besichtigungsrundgang auf die hohe Qualität der Betonarbeiten hin.
Kunstlicht wird punktuell und zurückhaltend eingesetzt. In
den hintereinander liegenden Abschnitten der Felsenwelt werden die prägenden
Kapitel der Erdgeschichte erzählt: die Entstehung des Felsens am Grunde des
Urmeeres, der subtropische Sandstrand, der die Region Luzern damals war. Über
das rohe Gestein wirbeln Punktwolken-Projektionen wie Sandkörner oder
Schneeflocken. Gelegentlich verdichten sie sich zu Motiven aus der Pflanzen-,
Tier- und Menschenwelt, welche die erdgeschichtliche Entwicklung begleitet
haben.
Ins Treppenhaus integriert ist ein sogenanntes Kosmophon.
Wer will, kann hier ganz persönliche Tonbotschaft an die Ewigkeit schicken. In
die Wände wurden fossilierte Kulturgüter unserer Zeit gegossen. Sie
repräsentieren die Hoffnung, dass dieser Vorstoss in die prähistorische Welt
zeitlos sein wird.
Das Baublatt berichtete bereits in der Ausgabe 6 / 2020 von der Bauphase des Gletschergartens.